Freytags-Frage

Sprengt das Bundesverfassungsgericht die Europäische Union?

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Geldpolitik für höchst unterschiedliche Regionen

Damit ist sie keineswegs allein – auch nationale Zentralbanken betreiben Geldpolitik für höchst unterschiedliche Regionen. In der Bundesrepublik als D-Mark-Zone gab es auch erhebliche Unterschiede in der Leistungskraft der Regionen. Allerdings gab (und gibt) es eine einheitliche Fiskalpolitik sowie Mechanismen zur Glättung der Unterschiede, insbesondere den Finanzausgleich zwischen den Bundesländern. Und es gab eine (weitgehend) einheitliche wirtschaftspolitische Grundhaltung in allen Teilen der Bundesrepublik, die wiederum eine einheitliche Interpretation der Rolle der Geldpolitik im wirtschaftspolitischen Assignment ermöglichte.

Beides ist in der EWU nicht gegeben. Es gibt sehr unterschiedliche wirtschaftspolitische „Philosophien“, in Frankreich und Italien setzt man stärker auf den Staat als Akteur im Wirtschaftsgeschehen als in den Niederlanden, Österreich und Deutschland, um nur einige Länder zu nennen. Dies führt automatisch zu Konflikten über die angemessene Geldpolitik. Zweitens gibt es keine gemeinsame Fiskalpolitik und kein umfassendes Transfersystem, das Ungleichgewichte, die durch einheitliche Geldpolitik nicht geschaffen, aber verschärft werden, auszugleichen.

Dies ist folgerichtig. Niederländische oder deutsche Steuerzahler sind offenbar nicht bereit, über ihre Haushaltspolitik in der EU oder in Parlamenten anderer Mitgliedsländer entscheiden zu lassen und (über die eher geringen europäischen Strukturhilfen hinaus) permanente Transferleistungen nach Italien oder Griechenland zu leisten. Griechische Bürger empfinden es als anmaßend, wenn Hilfen aus dem Norden mit Konditionen versehen werden. Genauso wenig wollen die nationalen Parlamente in der EWU ihre Budgethoheit aufgeben.

von Silke Wettach, Malte Fischer, Sven Böll, Max Haerder

Unter diesen Umständen zeigt sich 20 Jahre nach der Gründung der EWU, dass einheitliche Geldpolitik dann unter großen Druck gerät, wenn sich zu den Unterschieden in den Philosophie auch noch unterschiedliche Entwicklungen der Volkswirtschaften gesellen, die zum Teil durch die politischen Fehlanreize einer Einheitswährung, zum Beispiel sehr niedrige Zinsdifferenzen für Staatsanleihen unterschiedlicher Länder, noch verschärft werden.

Diese Lage erlegt der EZB den Zwang auf, mehrere Ziele anzustreben, weil die nationalen Wirtschaftspolitiken sich (mit durchaus berechtigten politischen Gründen) verweigern. Die nötigen Reformen auf der Angebotsseite unterbleiben, zum Beispiel in Italien und Frankreich, weil der politische Widerstand gewaltig ist. Stattdessen werden Forderungen nach vermehrten Transferzahlungen aus anderen Mitgliedsländern lauter. Wenn diese abgelehnt werden, wird von einigen Mitgliedsländern nach frischem und billigem Geld aus Frankfurt verlangt, andere sehen Gefahren für Stabilität und Vermögensbildung.

Insgesamt zeigt sich innerhalb der EWU ein großes Konfliktpotential, das auch zwanzig Jahre nach der Gründung nicht geringer wird, eben weil der Konstruktionsfehler so gravierend ist.

Im Grunde hat das BVG in seinem Urteil nichts anderes getan, als auf dieses Problem hinzuweisen. Es macht wenig Sinn, nun den Boten zu erschlagen. Richtig wäre es, die europäische Geldpolitik wieder auf die ursprüngliche Aufgabe hin auszurichten und die anderen wirtschaftspolitischen Felder durch die dafür geeigneten Akteure bestellen zu lassen. Das heißt auch, dass Fiskalpolitik wieder zu einer exklusiv nationalstaatlichen Aufgabe wird. Wenn es zu Zinsdifferenzen zwischen den Ländern kommt, ist es nicht Aufgabe der EZB, diese quasi „weg zu subventionieren“. Es ist vielmehr die Aufgabe der betroffenen Länder, die in hohen Zinsforderungen zum Ausdruck kommende Risikoeinschätzung zum Anlass zu nehmen, eine zielführende Wirtschafts- und Finanzpolitik zu betrieben (oder die Risikoprämie zu zahlen). Nur dadurch nimmt man der gemeinsamen Geldpolitik ihre Sprengkraft für die Europäische Union.

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