Geldpolitik Die EZB treibt Europa immer tiefer in die Zinsplanwirtschaft

Videokonferenz mit EZB-Präsidentin Christine Lagarde, Eurogruppen-Präsident Paschal Donohoe und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Tag der EZB-Zinsentscheidung. Quelle: AP

Die EZB will kurzfristig noch mehr Anleihen kaufen. Die Staatsfinanzierung mit der Notenpresse beschleunigt sich. Eine Klage gegen die Anleihekäufe versucht das zu verhindern. 

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Den Schock vom Vortag, als Aktivisten der Umweltorganisation Greenpeace mit motorisierten Gleitschirmen auf dem Dach eines Anbaus der Europäischen Zentralbank (EZB) landeten, um für eine grüne Geldpolitik zu demonstrieren, hatte Christine Lagarde offenbar überwunden, als sie nach der Sitzung des EZB-Rats heute vor die Presse trat. Zwar wurde die EZB-Chefin von den Journalisten kurz zur Rolle der Notenbank in der Klimapolitik gefragt. Doch im Mittelpunkt der Ratssitzung stand ein anderes Thema. 

Die Finanzmärkte sorgen sich vor einer Rückkehr der Inflation. Das hat die Renditen für Staatsanleihen in den vergangenen Wochen steigen lassen. Die Aufwärtsbewegung sei unerwünscht und gefährde die wirtschaftliche Erholung in der Eurozone, urteilte Lagarde. Europa brauche „günstige Finanzierungsbedingungen“, um die Coronakrise zu überwinden. Der EZB-Rat beschloss deshalb, im Rahmen seines Pandemie-Notprogramms (PEPP) nächstes Quartal deutlich mehr Anleihen zu kaufen als in den ersten drei Monaten dieses Jahres. Das soll die Renditen nach unten drücken. 

Welche Dimensionen die zusätzlichen Käufe annehmen und wann exakt die EZB zuschlägt, ließ Lagarde offen. Jedenfalls werde die EZB nicht hektisch auf Tagesschwankungen der Renditen reagieren, sondern deren mittelfristige Entwicklung in den Blick nehmen. Der EZB gehe es um einen „holistischen“ Ansatz, der alle Laufzeiten und alle Anleihearten berücksichtigt. Eine Kontrolle der Zinskurve, wie sie die Bank von Japan seit Jahren betreibt, strebe die EZB allerdings nicht an, so Lagarde.

Zinskurvenkontrolle à la EZB 

Faktisch aber macht sie genau das: Die EZB drückt die Zinsen über das gesamte Laufzeitenspektrum nach unten und kontrolliert so die Zinskurve. Das ist monetäre Planwirtschaft in Reinkultur und zeigt, wie verfahren die Situation ist, in die sich die Frankfurter Geldbehörde manövriert hat. Um die Währungsunion zu retten, hat sich die EZB in den vergangenen Jahren den Regierungen als Finanzier angedient. Mit milliardenschweren Anleihekäufen hat sie die Finanzierungskosten für die Finanzminister nach unten gedrückt und den Regierungen Zeit für Reformen gekauft. 

Genutzt haben die Politiker die Zeit nicht. Statt die Wirtschaft zu reformieren, haben sie die Bonsai-Zinsen als Einladung betrachtet, noch mehr Schulden zu machen. Länder wie Italien, Griechenland, Spanien und Portugal mit Staatschuldenquoten jenseits von 100 Prozent können sich höhere Zinsen gar nicht mehr leisten. Sie trieben die Länder schnurstracks in den Staatsbankrott. Deshalb unternimmt die EZB alles, um die Zinsen für die Staaten niedrig zu halten. 

Ewig aber kann das nicht gutgehen. Zieht die Inflation an, streben auch die Renditen weiter nach oben. Entweder die Notenbanker lassen den Renditeanstieg zu, heben ihrerseits die Leitzinsen an und bekämpfen die Inflation. Oder sie kaufen noch mehr Anleihen und drücken die Zinsen weiterhin nach unten. Im ersten Fall drohen Staatsbankrotte, im zweiten Fall Inflation und eine Geldkrise. 

Klage gegen monetäre Staatsfinanzierung 

Die heutige Entscheidung der EZB ist daher nur der Auftakt für das Kräftemessen zwischen der Notenbank und den Märkten, das Europa demnächst bevorsteht. Wie lange es dauert, könnte sich vor Gericht entscheiden. So reichte heute eine Gruppe von Professoren und Unternehmern unter Führung des Berliner Finanzwissenschaftlers Markus Kerber eine Klage gegen das Pandemie-Kaufprogramm der EZB beim Bundesverfassungsgericht ein. Die Kläger werfen der EZB vor, das PEPP-Programm verstoße gegen das in den EU-Verträgen verankerte Verbot der monetären Staatsfinanzierung. 

Die Kläger können für ihre Sache Argumente ins Feld führen, die das Bundesverfassungsgericht höchstselbst entwickelt hat. In seinem Urteil zum Kaufprogramm der EZB für Staatsanleihen (PSPP) vom Mai vergangenen Jahres hat das Gericht Kriterien definiert, anhand derer sich beurteilen lässt, ob die Anleihekäufe der Notenbank rechtmäßig sind. Das ist nach Ansicht der Richter der Fall, wenn das Volumen der Anleihekäufe begrenzt ist und die EZB nicht mehr als ein Drittel einer Emission erwirbt. Außerdem müssen die Länderanteile bei den Anleihekäufen den Länderanteilen am EZB-Kapital entsprechen. Zudem darf die EZB nur Papiere von Emittenten mit guter Bonität erwerben. 

Das Pandemieprogramm aber verstößt gegen diese Kriterien, monieren die Kläger. So ist das Volumen der Käufe nach oben offen, die EZB hat es mehrfach angehoben, zuletzt auf 1850 Milliarden Euro gestiegen. Auch dient der Länder-Kapitalschlüssel der EZB nur als grobe Orientierungsmarke. Der Anteil Italiens an den Anleihekäufen etwa lag zuletzt bei mehr als 19 Prozent, der Kapitalanteil des Landes beträgt jedoch nur rund 17 Prozent. 

Dazu kommt, dass die EZB mit griechischen Staatsanleihen Ramschpapiere erwirbt. Außerdem hat sie angekündigt, im Notfall alle Beschränkungen für den Kauf von Wertpapieren aufzuheben. Nach Ansicht der Kläger ist das Pandemie-Kaufprogramm daher eine „wirtschafts- und finanzpolitische Maßnahme zur Stabilisierung oder gar Rettung der Eurozone“, für die die EZB keine Kompetenz besitzt. 

Langes Verfahren

Folgen die Verfassungsrichter den Klägern und stufen die Käufe als unerlaubte monetäre Staatsfinanzierung ein, müsste sich die Bundesbank wohl aus dem PEPP-Programm zurückziehen. An den Finanzmärkten könnte das ein mittleres Erdbeben auslösen. Denkbar ist daher, dass die EZB das PEPP-Programm im nächsten Jahr auslaufen lässt und im Gegenzug die Käufe ihres PSPP-Programms, das das Bundesverfassungsgericht als rechtmäßig eingestuft hat, ausweitet. 

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Zieht sich das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht bis dahin hin, könnte die Klage gegen das Pandemieprogramm ins Leere laufen. Für die EZB wäre das ein Erfolg – für die Geldwertstabilität in der Eurozone hingegen eine bittere Niederlage. 

Mehr zum Thema: Die EU-Kommission erwägt, beim Stabilitätspakt zwischen guten und schlechten Staatsschulden zu unterscheiden. Damit öffnet sie der Schuldenwirtschaft Tür und Tor.
 

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