Stabilitätspakt Die Mär von den guten Staatsschulden

Die Corona-Pandemie hat die Staatsschulden der Euroländer im Schnitt auf mehr als 100 Prozent der Wirtschaftsleistung steigen lassen. Die EU-Kommission hat deswegen die Schuldenregel des Stabilitätspakts vorübergehend ausgesetzt. Vor allem die Südländer der Eurozone sträuben sich dagegen, den Pakt bald wieder in Kraft zu setzen. Statt dessen wollen sie die Schuldenregel weiter aufweichen.   Quelle: dpa

Die EU-Kommission erwägt, beim Stabilitätspakt zwischen guten und schlechten Staatsschulden zu unterscheiden. Damit öffnet sie der Schuldenwirtschaft Tür und Tor.      

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Totgesagte leben länger, heißt es. Für den Euro-Stabilitätspakt, der die Staatsschulden der Euroländer begrenzen soll, gilt das wohl eher nicht. Die EU hat den Pakt, den sie in den vergangenen Jahren vielfach aufgeweicht hatte, für die Dauer der Pandemie ganz außer Kraft gesetzt. Das soll den Regierungen mehr Spielraum für kreditfinanzierte Hilfspakte geben. Nach der Pandemie, wenn die Wirtschaftsleistung wieder auf dem Vorkrisenniveau angelangt ist, soll der Pakt wieder greifen. Doch nun stellt ausgerechnet der EU-Währungskommissar Paolo Gentiloni den Pakt in Frage. 

Der Italiener will künftig zwischen guten und schlechten Staatsschulden unterscheiden. Die Vorlage dazu lieferte ihm sein Landsmann Mario Draghi, der ehemalige EZB-Chef und aktuelle Regierungschef Italiens. Gute Schulden so die beiden Italiener, seien jene, die der Finanzierung staatlicher Investitionen, etwa dem Bau von Straßen, Brücken, Schulen und Krankenhäusern dienen. Schlechte Schulden hingegen seien jene, die laufende Ausgaben etwa für Personal, Sachmittel und Subventionen finanzieren.

Neue Schuldentheorie

Die neue Schuldentheorie made in Italy ist das politische Echo auf eine Debatte, die keynesianische Ökonomen angezettelt haben. Demnach sind Staatsschulden nicht nur ein Instrument zur Glättung von Schwankungen im Konjunkturverlauf, sondern auch eine strukturelle Notwendigkeit, um den demografischen Herausforderungen alternder Wohlfahrtsgesellschaften zu begegnen. Daher sei es volkswirtschaftlich töricht, ja geradezu unverzeihlich, die aktuelle Null- und Niedrigzinsphase nicht für die staatliche Aufnahme von Krediten zu nutzen und mit dem Geld die öffentliche Infrastruktur auf Vordermann zu bringen. 

Solange die Zinsen für die Staatsschulden unter der Wachstumsrate des nominalen Bruttoinlandsprodukts liegen, so die Befürworter der staatlichen Pump-Finanzierung, bestehe ein Abwärtsdruck auf die Schuldenquote (Schulden in Relation zum Bruttoinlandsprodukt). Kredite für staatliche Investitionen, die die Wirtschaft ankurbeln, könnten daher den Abbau der Schuldenquote sogar beschleunigen. Überspitzt formuliert: Mehr Schulden können zu weniger Schulden (in Relation zum BIP) führen. 

Doch diese These steht auf wackeligen Beinen. Denn die Apotheose des Staates als Instanz zur Lösung ökonomischer Probleme blendet die negativen Folgen staatlicher Schuldenwirtschaft aus. 

So ist es unwahrscheinlich, dass die aktuell außerordentlich günstigen Finanzierungsbedingungen für die Staaten dauerhaft Bestand haben. Der jüngste Aufwärtstrend der Renditen lässt sich als Wetterleuchten für das Streben der von Inflationsängsten getriebenen Märkte nach höheren Zinsen deuten. Ziehen die Renditen in den nächsten Jahren weiter an, wird es für die Regierungen teuer. Dann müssen sie für neue Kredite zur Ablösung ihrer alten Schulden höhere Zinsen zahlen. Das Geld dafür werden sie den Steuerzahlern abknöpfen. Aus den Schulden von heute werden so die Steuern von morgen. Wer höheren Staatsschulden das Wort redet wie Gentiloni und die Keynesianer, nimmt stillschweigend in Kauf, dass der Fiskus nachfolgenden Generationen tiefer in die Taschen greift.

Die staatlichen Aufgaben überdenken

Häufig ist zu hören, dies sei gerechtfertigt, weil die nachfolgenden Generationen von dem heute auf Pump finanzierten öffentlichen Kapitalstock profitieren, den sie einst erben werden. Doch das Argument überzeugt nicht. Woher wollen die Politiker wissen, welchen Kapitalstock künftige Generationen wünschen? Straßen und Brücken, die heute noch als volkswirtschaftliches Asset gelten, können morgen schon unerwünschte Altlasten sein, etwa weil man sich nicht mehr mit Autos sondern mit Flugtaxis von A nach B bewegt. Kernkraftwerke, die vor 50 Jahren noch als ultima ratio der Energieversorgung galten, werden heute vom Netz genommen und stillgelegt, weil sie niemand mehr haben will. 

Wer sich bessere Straßen, Brücken, Krankenhäuser oder mehr staatlich finanzierte Forschung wünscht, sollte daher bereit sein, in die eigene Tasche zu greifen, statt künftigen Generationen höhere Steuerlasten aufzubürden. Oder noch besser: überdenken, ob das, was der Staat als seine Aufgaben betrachtet, nicht effizienter und kostengünstiger durch private Investoren erstellt, betrieben und finanziert werden kann. 

Anders als der Staat stehen private Unternehmen im Wettbewerb. Treffen sie Fehlentscheidungen, werden sie dafür sanktioniert, mit Gewinneinbußen oder gar mit der Insolvenz. Das erzwingt Kostendisziplin und Qualitätsoptimierung. Der Staat hingegen, der sich durch Zwangsabgaben finanziert und als Monopolanbieter vor Wettbewerb schützt, bietet eher schlechtere Qualitäten zu überhöhten Preisen.

Wuchernder Schuldenstaat 

Ohne die Einhegung durch ein disziplinierendes Regelwerk wie den EU-Stabilitätspakt wird der Staat in Zukunft noch schneller wachsen und dabei immer mehr Tätigkeiten an sich ziehen. Nichts ist für Politiker bequemer, als höhere Ausgaben mit der Kreditpumpe zu finanzieren. Gegen höhere Steuern regt sich in den Parlamenten und in der Öffentlichkeit meist Widerstand, gegen höhere Schulden hingegen kaum. 

Ein wuchernder Schuldenstaat entzieht dem privaten Sektor Ressourcen.  Ingenieure, die auf der Gehaltsliste der Kommunen stehen, fehlen auf den Baustellen für Werkshallen. LKWs, die für staatliche Auftraggeber über die Straßen rollen, stehen nicht mehr zur Verfügung, um Unternehmen zu beliefern. Während der Schuldenstaat wächst, schrumpft die Privatwirtschaft. Die Marktwirtschaft mutiert so schleichend zur Staatswirtschaft. 

Dabei kann angesichts einer Steuer- und Abgabenquote (Steuern und Sozialabgaben in Relation zum Bruttoinlandsprodukt) in der EU von durchschnittlich mehr als 41 Prozent von einem Mangel an Finanzierungsmitteln für staatliche Investitionen keine Rede sein. Woran es mangelt, ist die Bereitschaft der Politiker, auf der Ausgabenseite des Staatsbudgets Prioritäten zu setzen. 

Wer mehr Geld für Brücken, Krankenhäuser und Kitas einfordert, sollte bereit sein, an anderer Stelle den Rotstift anzusetzen, etwa beim überbesetzten öffentlichen Dienst, den Subventionen oder den Transferzahlungen. Auch für den Staat gilt: In einer Welt der Knappheiten kann es keine Politik des Wünsch-Dir-Was-Pump-Dir-Was geben.

Wachsende Ungleichheit 

Meist sind es die Befürworter von Staatsschulden, die zugleich lauthals über die wachsende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen klagen. Sie übersehen dabei, dass gerade die Staatsschulden die redistributive Kraft des Kapitalismus schwächen und die Vermögensungleichheit fördern. Wer sein Vermögen durch den Erwerb von Staatsanleihen im Schoße des Staates in Sicherheit bringen kann, muss es nicht täglich im Markt verteidigen mit dem Risiko, alles zu verlieren. So fördert die Staatsverschuldung die wachsende Ungleichheit der Vermögen - und befeuert die Forderungen nach Umverteilung. Auch auf diesem Wege werden die Schulden von heute zu den Steuern von morgen. 

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Trotz der negativen Folgen von Staatsschulden dürfte Gentilonis Versuch, diese zu rehabilitieren bei den Finanzministern auf fruchtbaren Boden fallen.  Denn was investiv und was konsumtiv ist, was als gute und was als schlechte Schulden zu gelten hat, unterliegt der politischen Definitionswillkür. Vor allem die Politiker aus dem Süden der Eurozone dürften versuchen, alle nur denkbaren Ausgaben unter der Rubrik der Investitionen zu verbuchen, damit die EU-Kommission grünes Licht für neue Kredite gibt. 

Die Euro-Schuldenspirale drehte sich dann noch schneller – und der Druck auf die EZB, die Zinsen niedrig zu halten, nähme weiter zu. An eine geldpolitische Wende bei anziehender Inflation wäre dann erst recht nicht mehr zu denken.

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