WirtschaftsWoche: Herr Keitel, Deutschland wird als Viertes Reich beschimpft, die Bundeskanzlerin als Nazi verunglimpft. Spaltet die Schuldenkrise wieder Europa?
Keitel: Darüber ist die deutsche Wirtschaft entsetzt. Manche Beleidigung ist ungeheuerlich. Darin stimmen wir übrigens mit unseren europäischen Partnern überein. Wir dürfen Europa nicht den Populisten als Beute überlassen.
Was empfehlen Sie gegen üble Tiraden?
Wir sollten gelassen reagieren. Im Sport wird auch gern zur emotionalen Keule mit grenzwertigen Formulierungen gegriffen. Wichtiger ist, dass die Politiker die Krise bald in den Griff bekommen.
Sehen Sie Fortschritte in der Euro-Krise?
Eindeutig. Die europäische Staatengemeinschaft sollte mit mehr Selbstbewusstsein auf ihre bisherigen Entscheidungen sehen. Wir erleben eine allmähliche Trendumkehr in der Schuldenpolitik, die bisher zum unbeschwerten Alltag vieler Regierungen gehört hat. Die Defizite in den Staatshaushalten haben sich verbessert, etwa in Italien, Spanien oder Irland. Die Lohnstückkosten sinken, und zusammen mit zahlreichen Strukturreformen gewinnen die meisten Krisenländer ganz langsam an Wettbewerbsfähigkeit – trotz Rezession.
Und trotzdem drängen die Regierungen in Rom und Madrid auf eine Lockerung der Konsolidierungspolitik.
Ich verstehe Italien und Spanien hier wirklich nicht. Beide Länder müssten ihre Erfolge und Strategien offensiv vermarkten, anstatt ständig nach Hilfestellung zu rufen.
Die Finanzmärkte sehen das anders. Die Zinsen für dortige Staatsanleihen sind um ein Vielfaches höher als für deutsche.
Eben weil sich beide Länder unter Wert verkaufen! Aber lassen Sie die Kirche im Dorf. Die italienischen Zinsen liegen aktuell im Schnitt bei 4,5 Prozent. Das ist viel weniger als zu Lira-Zeiten. Es war eher ungewöhnlich, dass die Zinsen in den einzelnen Euro-Mitgliedstaaten jahrelang nahezu identisch waren. Ich wäre jedenfalls froh, wenn wir in der Debatte zu mehr Sachlichkeit und Ruhe kommen könnten.
Sehen Sie aber für Griechenland noch Chancen?
Griechenland ist ein Sonderfall. Dem Land fehlt es an substanziellen Voraussetzungen, angefangen von einer funktionierenden Verwaltung bis zum ausdrücklichen Willen, sich selbst aus der Krise befreien zu wollen. Dabei hat Griechenland viele ausgesprochen reiche Bürger und Unternehmen. Sie müssten als Patrioten ihrer Heimat beim Wiederaufbau helfen, im Land investieren und dort Steuern zahlen.
Was aber die wenigsten tun. Soll das restliche Europa ein solches Griechenland weiterhin mit Milliarden alimentieren?
Die Griechen müssen sich in den nächsten beiden Monaten entscheiden. Wollen sie zu den vereinbarten Bedingungen im Euro-Raum bleiben? Falls ja, müssen sie endlich die Auflagen für die Hilfen von EU und Internationalem Währungsfonds erfüllen. Ich könnte mir dann auch eine Art Sonderwirtschaftszone für Griechenland vorstellen, für zehn Jahre, mit Steueranreizen und ohne hinderliche Bürokratie, um dort attraktive Bedingungen für Wirtschaftsansiedlungen aus dem Ausland zu schaffen.
"Deutschland spart nun wirklich nicht ambitioniert"
Und wenn die Griechen weiterhin die Dinge treiben lassen?
Dann wäre für Griechenland kein Platz mehr in der Euro-Zone. Essenziell ist, dass dadurch nicht auch andere Mitgliedstaaten unter Druck geraten.
Sehen Sie diese Gefahr?
Viele Fachleute halten die Ansteckungsgefahr für beherrschbar. Wir haben die EFSF, demnächst den ESM und den IWF. Irland und Portugal haben dank ihres Sanierungskurses sehr an Glaubwürdigkeit am Kapitalmarkt zurückgewonnen. Spanien und Italien können dies ebenfalls aus eigener Kraft.
Macht denn Deutschland alles richtig?
Weiß Gott nicht. Deutschland spart nun wirklich nicht ambitioniert. Da strengen sich viele andere Euro-Länder deutlich mehr an.
Aus dem Finanzministerium heißt es, man wolle wachstumsschonend sparen.
Sorry, ich sehe nicht, wo die Bundesregierung überhaupt richtig spart. Die sinkende Neuverschuldung ist auf die sprudelnden Steuereinnahmen zurückzuführen. Die sollten wir nicht vergeuden. An einer ernsthaften Diskussion über Einsparungen und Subventionsabbau würde sich die Wirtschaft beteiligen.
Konkrete Angebote hat die Wirtschaft nie gemacht.
Aus gutem Grund. Von uns kommt kein erster Aufschlag, und den erwartet auch kein vernünftiger Mensch. Ich will erst definitiv wissen: Um wie viel geht es, und ist das wirklich eine ernsthafte Anstrengung und Vereinbarung?
Der DIHK schlägt den Rasenmäher vor.
Vom Rasenmäher halte ich nichts, er kann kein strukturelles Ausgabenproblem lösen und ist im Kern unpolitisch. Es gibt nüchterne Argumente für und wider bestimmte staatliche Ausgaben. Über die lässt sich ernsthaft diskutieren. Da darf man sich nicht in irgendwelche Hilfskonstruktionen flüchten. Die aktuelle Krise zeigt, dass man nie unverschuldet in Schwierigkeiten gerät. Man kann langfristig nicht mehr ausgeben, als man einnimmt.
Von der Zuschussrente bis zu Mindestlöhnen – werden hier schon die ersten Wahlgeschenke in buntes Papier gewickelt?
Es gibt Ideen und Luftballons, die immer wieder auftauchen, manche sogar jedes Jahr im Sommer.
"Obergrenze für den Ausbau der Fotovoltaik ist viel zu hoch"
Ist bis zur Bundestagswahl noch Zeit, Fortschritte zu erzielen?
Die nächsten vier Wochen werden zeigen, was an Weichenstellung noch geht. Wenn es dann nicht bis Weihnachten gelingt, ein paar wichtige Entscheidungen zu treffen, sind die Gestaltungschancen für diese Legislaturperiode verschwindend gering geworden. Denn danach ist Wahlkampf, die K-Frage geht ja bei der SPD und den Grünen schon langsam los.
Nach den Kommentaren des BDI zu urteilen, waren alle Regierungen schlecht, nur die große Koalition schneidet etwas besser ab, weil sie viel entschieden hat.
Sachte, sachte! Ein Verband wie der BDI hat die Aufgabe, die offenen Probleme zu benennen und am öffentlichen Diskurs mitzuwirken. Wer rückblickend wie gut agiert hat, besagt wenig für die Zukunft. Aber ich wiederhole gern, dass die Regierung insbesondere angesichts der dramatischen Randbedingungen ihren Anteil am wirtschaftlichen Erfolg unseres Industrielandes hat. Und auch, dass die Agenda 2010 unter Rot-Grün richtig war und einer der entscheidenden Faktoren für unseren heutigen Erfolg. Ich sage das nicht, um heute jemanden zu ärgern, sondern um darauf hinzuweisen: Aufpassen, wir brauchen auch eine Agenda 2020.
Was heißt das?
Wir stehen in der Wirtschaftspolitik prinzipiell immer noch auf der Basis der Agenda 2010, und davon wurde mittlerweile einiges rückgängig gemacht. Wir Deutschen werden uns in zehn Jahren ziemlich konsterniert umgucken, wenn wir uns dann wirtschaftspolitisch nicht ähnlich radikal weiterentwickelt haben. Deutschland muss ständig daran arbeiten, seine Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Wir stehen in einem harten weltweiten Wettbewerb – unser Standort, unsere Unternehmen. Die Regierung darf ruhig noch etwas konsequenter handeln – in der Energiepolitik, der Klimapolitik, der Steuerpolitik.
Kann die Regierung die angekündigte Energiewende bis 2020 realisieren?
Die Regierung stellt derzeit selbst ihre Ankündigungen auf den Prüfstand. Wir haben politisch in den letzten Wochen erstmals eine Diskussion, keine Vorgabe.
Sie meinen: Seit Umweltminister Norbert Röttgen weg ist.
Jetzt ist jedenfalls insgesamt die Erkenntnis gereift: Wir müssen unsere politischen Zielvorgaben ganz nüchtern einem Realitätstest unterziehen. Jetzt brauchen wir auch die politische Kraft, Fehlentwicklungen konsequent zu korrigieren.
Kaum ein Haus hier in Bayern, auf dem nicht Solarzellen montiert sind.
Die jetzt vorgegebene Obergrenze für den Ausbau der Fotovoltaik ist viel zu hoch, das bewirkt gar nichts. Unsere Solarfirmen gehen trotzdem reihenweise pleite. Bei 120 Milliarden Euro Förderung, die wir bereits ausgeben, können wir so nicht weitermachen.
Haben wir längst genug Solar installiert?
Wir brauchen einen Fahrplan, wie wir die Förderung der Solarenergie schneller zurückführen und den Einspeisevorrang begrenzen. Beispielsweise müsste der Zubau daran gekoppelt werden, was das Netz verkraftet oder ob die gewonnene Energie überhaupt sinnvoll genutzt und gespeichert werden kann. Solange dies nicht möglich ist, sollte der Zubau begrenzt sein.