Die Liste der Probleme ist lang. Sehr lang. Der EU-Türkei-Flüchtlingspakt gilt als fragil, die Entwicklung der Türkei unter Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan als kritisch, die Beziehung zu Deutschland als angespannt. Und und und. Eigentlich gibt es keinen politisch günstigen Zeitpunkt für einen Besuch der Kanzlerin in Ankara.
Am Donnerstag reist Angela Merkel aber dorthin - auf dem Weg zum EU-Gipfel auf Malta, wo es am Freitag um die europäische Flüchtlingspolitik geht. Die Kanzlerin will mit Ministerpräsident Binali Yildirim und Erdogan darüber sprechen. Der EU-Türkei-Pakt werde nur schleppend umgesetzt, beklagte sie im Dezember. Viele Druckmittel hat sie aber nicht.
Im Gegenteil, meint der Abgeordnete der Mitte-Links Partei CHP, Sezgin Tanrikulu. Erdogan könnte mit der Drohung, den Flüchtlingspakt platzen zu lassen, seinerseits Druck auf die EU und auf Deutschland ausüben. Die EU habe sich der Türkei mit den Abkommen „ausgeliefert“, sagt er der Deutschen Presse-Agentur.
Für Merkel wäre ein Scheitern der Vereinbarungen mit der Türkei, nach denen Griechenland Migranten in die Türkei zurückschicken kann, ein schwerer Rückschlag für ihre Flüchtlingspolitik. Wieder ansteigende Flüchtlingszahlen im Bundestagswahljahr 2017 will ihre Union unbedingt verhindern. Viele Bürger in Deutschland fühlen sich mit der Aufnahme von Flüchtlingen seit 2015, als rund 890.000 Menschen ins Land kamen - darunter überwiegend Syrer, überfordert.
Probleme im deutsch-türkischen Verhältnis
Im Juni 2016 beschließt der Bundestag eine Resolution, die die Gräuel an den Armeniern im Osmanischen Reich vor 100 Jahren als Völkermord einstuft. Die Türkei reagiert erbost und unter anderem mit dem Besuchsverbot für Incirlik. Kanzlerin Angela Merkel erklärt Anfang September, die Resolution sei rechtlich nicht bindend - aus Sicht Ankaras die geforderte Distanzierung von dem Beschluss. Das Besuchsverbot wird aufgehoben, doch vergessen ist die Resolution nicht.
Die Türkei hat sich verärgert darüber gezeigt, dass sich nach dem gescheiterten Putsch keine hochrangigen Mitglieder der Bundesregierung zum Solidaritätsbesuch haben blicken lassen. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) plant zwar einen Besuch, der aber immer noch nicht stattgefunden hat. Der türkische EU-Minister Ömer Celik kritisiert, stattdessen seien aus Deutschland vor allem Mahnungen zur Verhältnismäßigkeit gekommen: „Bei hundert Sätzen ist einer Solidarität mit der Türkei, 99 sind Kritik.“
Ankara droht immer wieder damit, die Zusammenarbeit mit der EU in der Flüchtlingskrise aufzukündigen. Hintergrund ist unter anderem eine EU-Forderung, die Türkei müsse Anti-Terror-Gesetze reformieren, damit diese nicht politisch missbraucht werden. Ohne diese Reform will die EU die Visumpflicht für Türken nicht aufheben - ohne Visumfreiheit aber fühlt sich Erdogan nicht an die Flüchtlingsabkommen gebunden.
Auf Betreiben Erdogans beschließt das türkische Parlament, vielen Abgeordneten die Immunität zu entziehen. Betroffen ist vor allem die pro-kurdische HDP, die Erdogan für den verlängerten Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK hält. Parlamentariern droht Strafverfolgung - für Merkel „Grund tiefer Besorgnis“. Apropos PKK: Ankara fordert ein härteres Vorgehen gegen PKK-Anhänger in der Bundesrepublik, wo die Organisation ebenfalls verboten ist.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen lag die Türkei schon vor dem Putschversuch und dem anschließend verhängten Ausnahmezustand auf Platz 151 von 180 Staaten. Seitdem sind Dutzende weitere Medien geschlossen worden. Für Aufregung sorgt zudem, dass der türkische Sportminister Ende September die Aufnahme eines Interviews mit der Deutschen Welle konfiszieren lässt. Die Deutsche Welle klagt auf Herausgabe.
Ankara fordert von Deutschland die Auslieferung türkischer Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, den die Regierung für den Putschversuch von Mitte Juli verantwortlich macht. Neuer Streit ist damit programmiert.
Als heikel wird Merkels Besuch aber schon rein aus zeitlichen Gründen gesehen. Sie besucht die Türkei - mal wieder - sozusagen im Wahlkampf. Schon vor den Parlamentswahlen im November 2015 hatte sie sich in Istanbul mit Erdogan getroffen und sich damit viel Kritik eingehandelt.
Nun stimmen die Türken in wenigen Wochen über das von Erdogan und der islamisch-konservativen AKP-Regierung gewünschte Präsidialsystem ab. Kritiker befürchten, dass Merkels Besuch als Unterstützung für Erdogans autoritären Kurs gewertet wird. Das aus deutscher Sicht fragwürdige Präsidialsystem soll mit einer Verfassungsänderung eingeführt werden und Erdogan mehr Macht geben.
Die Beziehungen sind angespannt
Der Oppositionsführer und CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu, sagte der „Süddeutschen Zeitung“, Merkels Besuch laufe auf Wahlkampfhilfe für Erdogan hinaus. Tanrikulu sagt: „Meiner Meinung nach sollten vor dem Referendum gar keine ausländischen Regierungschefs die Türkei besuchen.“ Massenentlassungen, Verhaftungen von Oppositionspolitikern und Journalisten, Erdogans Führungsstil - die CHP erwartet nicht, dass Merkel das anspricht. Dabei hat sie sich bisher oft kritisch zu Einschränkungen von Freiheitsrechten in der Türkei geäußert.
Auch bei der Aufarbeitung des Putschversuchs im Juli 2016, für den die Türkei den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen verantwortlich macht, gibt es enorme Spannungen im deutsch-türkischen Verhältnis. Der türkische Justizminister Bekir Bozdag sagte jüngst dem Sender Kanal 24, der Westen beschütze Anhänger der Gülen-Bewegung und der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Er beschuldigte die Kanzlerin sogar persönlich: „Auch Merkels Deutschland schützt die Terroristen, die Mitglieder der Gülen-Terrororganisation. Es schützt die Terroristen der PKK-Terrororganisation.“
Besonders sensibel ist nun, dass etwa 40 in Nato-Einrichtungen stationierte türkische Soldaten Asyl in Deutschland beantragt haben. Der türkische Verteidigungsminister Fikri Isik fordert, die Asylanträge der mutmaßlichen Putschisten müssten abgelehnt werden. Den Anträgen stattzugeben, würde ernste Konsequenzen haben, droht er. Merkels Sprecher Steffen Seibert sagt, Asylanträge seien für die Bundesregierung keine politische Frage. „Sondern eine Frage, bei der entsprechend den Regelungen des deutschen Asylrechts Einzelfall für Einzelfall von der zuständigen Behörde geprüft werden wird.“
Für weiteren Ärger auf türkischer Seite sorgt der Auftritt des in Deutschland im Exil lebenden regierungskritischen türkischen Journalisten Can Dündar als Ehrengast bei einem Neujahrsempfang des Bundesjustizministeriums. Das türkische Außenministerium sprach von einer „Provokation“ in Zeiten sich verbessender bilateraler Beziehungen. Das von Dündar mit initiierte Online-Medium „Özgürüz“ („Wir sind frei“) sperrten die türkischen Behörden dann in der vorigen Woche - noch bevor die Berichterstattung begonnen hatte.
Visumfreiheit: Was die EU von der Türkei verlangt
Dürfen türkische Staatsbürger irgendwann ohne Visum nach Europa reisen oder nicht? Die Antwort auf diese Frage kann nach Auffassung der EU-Kommission nur die Regierung in Ankara geben. Die Brüsseler Behörde sah in ihrem jüngsten offiziellen Bericht noch 5 der 72 Vorgaben für eine Visaliberalisierung als nicht erfüllt an.
In der Türkei wurde am 30. April eine neue Strategie dazu beschlossen. Im jüngsten Bericht stellten Experten der EU-Kommission allerdings fest, dass noch mehr getan werden müsse, um Korruption unter Parlamentariern, Richtern und Staatsanwälten zu verhindern. Dabei geht es unter anderem um Vorgaben zur Parteienfinanzierung und zur Unabhängigkeit der Justiz. Die EU weist dabei auf ein Gutachten der „Staatengruppe gegen Korruption“ (Greco) hin.
Laut der Darstellung im Fortschrittsbericht hatten die türkische Behörden bis zuletzt lediglich die Absicht erklärt, künftig enger mit den Behörden in EU-Staaten zusammenzuarbeiten, um die in der Türkei geltenden Rechtsvorschriften und Verfahren zu erklären. 2014 und 2015 wurden türkischen Statistiken zufolge 49 Auslieferungsanträge aus EU-Ländern gestellt, ein Großteil davon wurde noch nicht abschließend bearbeitet. Nur sechs Anträge wurden genehmigt.
Bei der jüngsten offiziellen Bestandsaufnahme lag der EU lediglich ein Absichtsbekundung der Türkei vor.
Ein im Frühjahr beschlossenes Gesetz entspricht nach Auffassung der EU-Kommission nicht den Anforderungen. Es sei nicht sichergestellt, dass die Datenschutzbehörde unabhängig handeln könne, lautete die Kritik. Es wurde gefordert, dass die neuen Datenschutzregeln auch für Strafverfolgungsbehörden gelten müssen.
Dies ist der umstrittenste Punkt. Die EU verlangt von der Türkei den geltenden Rechtsrahmen und die Standards zur Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Terrorismus zu überarbeiten. So soll unter anderem die Definition von Terrorismus enger gefasst werden, um auszuschließen, dass auch missliebige Journalisten oder politische Gegner verfolgt werden können. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat jedoch zuletzt deutlich gemacht, dass er im Gegenzug ein härteres Vorgehen gegen die verbotene Kurdische Arbeiterpartei PKK in Europa erwartet.
Ein Gericht in Istanbul hatte Dündar - ehemaliger Chefredakteur der Zeitung „Cumhuriyet“ - im vergangenen Mai wegen der Veröffentlichung geheimer Dokumente zu fünf Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt. Der Kläger war Erdogan. In Deutschland ein Kämpfer für die Pressefreiheit, für die türkische Führung ein Spion und Verräter - an Dündar lässt sich ablesen, wie unterschiedlich der Blickwinkel ist.
Die Grünen-Politikerin Claudia Roth fordert Merkel dringend auf, am Donnerstag auch Vertreter der Opposition zu treffen. Dazu machte die Bundesregierung zunächst keine Angaben. Roth sagt der dpa: „Sie muss Erdogan klar machen: Nur eine demokratische Türkei hat einen Platz in Europa. Sonst verspielt Angela Merkel ihre demokratische Glaubwürdigkeit in der Türkei und in Europa.“