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Gabriel Felbermayr: Europäische Projekte statt nationaler Erbsenzählerei Quelle: imago images

Europa braucht gemeinsame Projekte statt nationale Erbsenzählerei

Mit dem jüngsten Krisengipfel hat die EU in der Krise Zeit gewonnen und manches Dogma über den Haufen geworfen. Aber die vielen Milliarden helfen nichts, wenn sie nicht zukunftsfähig verwendet werden.

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Schaut man auf die Details der Beschlüsse des jüngsten EU-Gipfels und die Art ihres Zustandekommens dann muss man fürchten: So wird es nichts mit der erfolgreichen Zukunft Europas. National orientierte Ausgabenprogramme dominieren das Ergebnis, voraus ging dem ein tagelanges Geschacher der Mitgliedsländer um den größtmöglichen eigenen finanziellen Vorteil.

Wenn man – wie ich – eine vertiefte europäische Integration als wichtige Voraussetzung für künftigen Wohlstand und die positive Entwicklung des Kontinents sieht, dann sendet der Gipfel zwar durchaus positive Signale: Psychologisch wichtig ist die gezeigte Handlungsfähigkeit der EU in der Krise; die Zusage von Hilfstransfers und die damit verbundene erstmalige Aufnahme von Schulden auf EU-Ebene bedeuten einen Paradigmenwechsel, der neue Möglichkeiten für Europa eröffnen kann, wenn er nachhaltig angelegt ist. Erstmals soll Europa eine kurzfristige Stabilisierungsfunktion erhalten und nicht nur langfristige Strukturpolitik finanzieren. In jedem Fall werden diese Weichenstellungen die EU über viele Jahre prägen.

Weitere Spaltung verhindern

Damit aber Europa dauerhaft stabil und erfolgreich sein kann, dürfen nicht Transfers, sondern muss die Bereitstellung gemeinsamer europäischer öffentlicher Güter den Kern des Wirkens und der Wahrnehmung der EU ausmachen. Da sind konkrete Projekte, von denen alle Mitgliedsländer profitieren. Sie sind die Versicherung gegen ein Auseinanderdriften der wirtschaftlichen Verhältnisse und politischen Grundüberzeugungen innerhalb der Staatengemeinschaft. Diese Spaltung zu verhindern, muss ein Ziel aller EU-Länder sein – auch gerade der Wohlhabenden. Die EU-Institutionen müssen sich darauf fokussieren, länderübergreifende Interessen zu identifizieren, zu koordinieren und durchzusetzen. Werden sie nur als Drehscheibe für die Umverteilung nationalen Wohlstands wahrgenommen oder als maßregelnde Aufseher, dann entwickelt Europa nicht die gemeinsame Kraft, die es für die Gestaltung seiner Zukunft braucht.

Beim EU-Gipfel hat sich Europa eher als Projekt nationaler Erbsenzähler präsentiert: Was zahlen wir ein, was bekommen wir raus? Regierungen, mit Deutschland als einziger Ausnahme, waren darauf bedacht, den eigenen Nettobeitrag zur EU als möglichst gering zu präsentieren – oder den Zufluss als besonders hoch. Das ist uneuropäisch. Riesige Milliardenbeträge zur Rettung der EU aufzurufen bringt gar nichts, wenn es am Ende nur darum geht, wer in der nationalstaatlichen Abrechnung am besten dasteht. Schon konjunkturpolitisch droht das Ergebnis enttäuschend zu werden, weil die Gelder nicht in der akuten Krise fließen sondern erst dann, wenn voraussichtlich der Aufschwung schon im vollen Gang ist. Und auch für die mittelfristige Stabilität der EU ist eine solche Herangehensweise schädlich. Sie befördert dauerhafte Verteilungsdebatten und schwächt Anreize für einzelne Länder, Wirtschaftsstrukturen zu verbessern.

Projekte mit EU-weitem Nutzen in den Fokus

Um Europa dauerhaft zu stabilisieren und zu stärken, muss der Ausgabenfokus der EU sich statt auf regional oder national wirkenden Förderprogrammen auf gemeinschaftliche europäische Projekte fokussieren. Ökonomisch würde man von öffentlichen Gütern sprechen: Weil sie in einem integrierten Wirtschaftsraum massive grenzüberschreitende Vorteile entfalten, werden sie von einzelnen Ländern nicht oder nur unzureichend angeboten. Wenn diese Güter von der Gemeinschaft finanziert und bereitgestellt würden, wären sie für alle ein Gewinn.

Konkrete Beispiele für solche Clubgüter sind etwa länderübergreifende Strom-, Daten oder Verkehrsnetze. Der Schutz der europäischen Außengrenzen kann dazu gehören, oder der Auf- und Ausbau europäischer Forschungsinstitutionen und Ausbildungsstätten. Immer sollte es darum gehen, dass die Projekte einen Nutzen stiften, der über einzelne Staaten hinaus wirkt. Dann spricht auch nichts dagegen, dass ein einzelner Staat stärker profitiert, um das konkrete Projekt umzusetzen.

Übernähme die EU beispielsweise komplett den Schutz ihrer Außengrenzen, müssten vor allem südeuropäische Länder weniger Gelder für den Grenzschutz aufwenden, aber auch die mittel- und nordeuropäischen Länder hätten etwas davon, wenn Migrationsströme kontrolliert würden. Von der EU finanzierte Forschungsstätten oder Studiums- und Ausbildungscampi könnten zu Quellen des Wissens für den gesamten Kontinent und zu Anlaufstellen für Talente aus aller Welt werden. Würden sie in attraktiven aber vielleicht strukturschwachen Regionen der Union angesiedelt, entstünde ein regionaler Impuls mit Nutzen für die gesamte Staatengemeinschaft. Die in vielen Teilen schon gute Infrastruktur in Europa könnte durch länderübergreifende, gemeinschaftliche finanzierte Netze auf Top-Niveau kommen und damit Europa Standortvorteile im globalen Wettbewerber sichern.

Wichtig: Der Aufbau von „EU-Unternehmenschampions“ – sei es in der Bahnindustrie, der Batteriefertigung oder der IT-Branche – gehört nicht zu den förderungswürdigen europäischen Projekten. Welche Unternehmen sich am Ende durchsetzen, sollte die EU dem Markt überlassen, statt einer langfristig schädlichen und protektionistischen Industriepolitik zu verfallen.

Gemeinsame Finanzierung leichter begründbar

Die europäischen Gemeinschaftsgüter können wie bisher aus dem gemeinschaftlich getragenen EU-Haushalt finanziert werden. Aber die Bereitschaft, auch höhere Beiträge zu akzeptieren, stiege in dem Maß, in dem die Projekte einen offensichtlich gesamteuropäischen Nutzen stiften. Selbst wenn die EU-Mitgliedschaft für die Nettozahler teurer würde, wäre sie gleichzeitig auch nützlicher. Natürlich könnten zur Gegenfinanzierung auch Ausgaben dort zurückgefahren werden, wo sie dem Konzept europäischer Gemeinschaftsgüter widersprechen.

Auch eine gemeinsame Schuldenaufnahme oder eine Finanzierung aus eigenen Haushaltsmitteln der EU-Kommission ließe sich für solche Projekte viel besser begründen. Die Angst in einigen Ländern ließe sich abbauen, dass EU-Mittel nur von Einzelstaaten zum Stopfen ihrer Haushaltslöcher genutzt würden. Dennoch hätten solche Projekte auch einen Transferkomponente – siehe etwa das Grenzschutz-Beispiel. Aber Transfers mit konkret definiertem gesamteuropäischen Nutzen fänden in den EU-Staaten eine viel höhere Akzeptanz als die jetzt beschlossenen, für deren Verwendung des nur schwach ausgeprägte Bedingungen gibt.

Stabilisierungsfunktion inklusive

Hinzu kämen Stabilisierungsfunktionen für die EU. Erstens würde die Akzeptanz der EU gestärkt, sobald der gemeinschaftliche Nutzen ihrer Projekte spürbar würde. Zweitens wirken solche Projekte in eine Konjunkturkrise wie automatische Stabilisatoren: Kommt ein Land in die Krise, sinkt dessen am Bruttoinlandsprodukt orientierter EU-Beitrag. Die in dem Land verorteten EU-Projekte laufen weiter und sind finanziert, sodass sie konjunkturstützend wirken. Im Fall einer gesamteuropäischen Krise, wie etwa die Coronapandemie, können die Projekte durch eine gemeinschaftliche Schuldenaufnahme finanziert werden und damit nationale Konjunkturprogramme flankieren. Dies wäre viel unproblematischer als die jetzt in der Krise ad hoc und mit unklarer Zielsetzung beschlossene Schuldenaufnahme durch die EU.

Dem beschlossenen Wiederaufbaufonds fehlen dagegen die stabilisierenden Komponenten weitgehend. Die Verteilung der Gelder birgt politischen Sprengstoff. Das Fondsvolumen atmet nicht mit der Konjunkturentwicklung. Doch die Rezession von 2020 wird nicht die letzte Wirtschaftskrise der EU sein. Besser wäre ein atmendes EU-Budget, das öffentliche europäische Güter finanziert, und sich in Krisenzeiten vorübergehend über Schulden an den Finanzmärkten finanziert. Mit der jetzigen Ad-hoc-Lösung besteht die Gefahr, dass die EU in der nächsten Krise wieder zu spät reagiert, weil kein permanenter Mechanismus etabliert wurde. Die Aussicht auf Transfers an Nationalstaaten ohne europäischen Mehrwert schwächen zudem die Anreize der Empfängerländer, sich durch eigene Anstrengungen wirtschaftlich stärker aufzustellen. Ziel muss sein, dass sich jedes Land für die nationalen Aufgaben selbst am Kapitalmarkt finanzieren kann und nicht in eine Abhängigkeit von EU-Transfers gerät.



Wir müssen in der EU weg von der Diskussion, wie viel Geld wir ausgeben und wer wie stark profitiert und hin zu der Frage, wofür wir das Geld ausgeben. Statt nun hektisch konjunktur- und strukturpolitische Ziele in untauglicher Weise mit denselben Instrumenten zu verfolgen, sollten wir die Krise besser nutzen. Sie eröffnet uns die Chance, einen Mechanismus zu etablieren, mit dem Gelder so eingesetzt werden, dass sie die gesamteuropäischen Interessen fördern, wichtigen Zielen wie Wachstum, Klimaschutz und Digitalisierung dienen und gleichzeitig Zusammenhalt und Stabilität fördern.

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