Wenn der Türkei-Deal scheitert Plan B für die Flüchtlingskrise

Was geschieht, wenn das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei scheitert? In Griechenland droht Chaos. Und der Rest Europas dürfte dem Vorbild Ungarns Folgen. Was „Plan B“ bedeutet.

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März 2016: Flüchtlinge kommen aus der Türkei auf der griechischen Insel Lesbos an. Wenn der Flüchtlingsdeal scheitert, könnten wir diese Bilder wieder öfters sehen. Quelle: dpa

Griechenland will sich für den Notfall wappnen. „Wir brauchen in jedem Fall einen Plan B“, sagte der griechische Migrationsminister Jannis Mouzalas kürzlich im Gespräch mit der Bild-Zeitung. Zwar dementierte die griechische Regierung die Worte des Ministers später. Doch eines steht fest: Athen fürchtet, dass das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei nicht mehr lange hält und dann wieder mehr Flüchtlinge nach Europa kommen, also vor allem nach Griechenland.

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan hatte kürzlich gedroht, das Abkommen mit den Europäern aufzukündigen, wenn seinem Volk die zugesagte Visafreiheit verwehrt werden sollte. Seit dem 18. März können Flüchtlinge, die aus der Türkei, über die Ägäis auf die griechische Inseln übersetzen, zurückgeschickt werden. Bislang haben die Griechen nur knapp 500 Flüchtlinge zurückgeführt; der Rest stellte in Griechenland einen Asylantrag. Und da die griechischen Behörden kein Vertrauen in den türkischen Rechtsstaat haben, dürfen die, die Asyl beantragen, vorerst bleiben.

Dennoch sind die Zahlen im Vergleich zu der Zeit vor dem Abkommen dramatisch gesunken. Kamen im Februar noch 2.000 potentielle Asylbewerber pro Tag in Griechenland an, sind es mittlerweile weniger als 1.500 pro Monat. Kurzum: Der Flüchtlingsdeal hat dafür gesorgt, dass die Zahlen der Neuankömmlinge drastisch zurückgehen, obwohl diese nicht wirklich in die Türkei zurückgeschickt werden. Gerald Knaus von der "Europäischen Stabilitätsinitiative", einem Think Tank, das in Berlin und Istanbul operiert, nennt das einen „großen Bluff“.

Politikberater Knaus hat den sogenannten „Merkel-Plan“, der letztlich die Vorlage für das Türkei-Abkommen wurde, zu weiten Teilen verfasst. „Die Türkei muss sich anstrengen und nachweisen, dass zurückgeführte Flüchtlinge bei ihnen genauso sicher sind wie in Europa“, fordert er. Nur dann könne der Plan funktionieren.

Scharfe Töne aus Deutschland
Elmar BrokDer CDU-Europapolitiker Elmar Brok hält die Forderungen der Türkei zur Einführung der Visumfreiheit für legitim. „Die Türkei hat bislang ihren Teil im Flüchtlingsdeal erfüllt. Jetzt mahnt sie an, dass die EU auch ihren Teil erfüllt. Das ist legitim“, sagte Brok der Online-Zeitung „Huffington Post“. Fakt sei aber auch, dass die EU keine Visumfreiheit geben könne, wenn die Türkei gegen Grundrechte verstoße. „Wir sollten die übrigen zwei Monate nutzen, mit der Türkei in Ruhe zu verhandeln“, sagte Brok. Ohne das Abkommen mit Ankara kämen wieder Millionen Flüchtlinge nach Europa. Quelle: dpa
Frank-Walter SteinmeierBundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier will mit der Türkei über Visumfreiheit erst sprechen, wenn die Regierung alle Auflagen dafür erfülle. „Es gibt Bedingungen für die Visafreiheit, und diese sind allen Seiten bekannt“, sagte der SPD-Politiker der „Rheinische Post“ (Dienstagsausgabe). Die Türkei habe sich verpflichtet, die notwendigen Schritte zu unternehmen, um diese Bedingungen zu erfüllen. „Das ist momentan allerdings noch nicht der Fall und die Türkei hat da noch Arbeit vor sich.“ Quelle: AP
Katrin Göring-EckardtDie Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt hat sich für ein Aussetzen der EU-Beitrittsgespräche mit Ankara ausgesprochen. „Solange die Türkei sich im Ausnahmezustand befindet, kann es definitiv keine weiteren Beitrittsverhandlungen geben“, sagte sie den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Freitag). „Auch das EU-Türkei-Abkommen steht zur Disposition“, sagte sie mit Blick auf den Flüchtlingspakt. Die Bundesregierung dürfe nicht „kurzfristige Interessen in der Flüchtlingsfrage über das Wohl von 80 Millionen“ Türken stellen, sagte Göring-Eckardt. Kanzlerin Angela Merkel müsse das direkte Gespräch mit Präsident Recep Tayyip Erdogan sowie der Opposition suchen und Ankara deutlich machen, dass der Rechtsstaat umgehend wieder hergestellt werden müsse. Quelle: dpa
Sevim DagdelenDie Linken-Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen forderte erneut Sanktionen gegen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. „Wir brauchen wegen seiner brutalen Verfolgungspolitik mit Folter und Massenverhaftungen in der Türkei endlich Sanktionen gegen Erdogan. Seine Konten müssen gesperrt werden“, sagte sie der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. Quelle: dpa
Sigmar GabrielDas harsche Vorgehen der türkischen Regierung gegen ihre Gegner nach dem Putschversuch reißt immer tiefere Gräben zu Europa auf. In einer gereizten Atmosphäre stellte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu am Montag den Flüchtlingspakt zwischen der EU und seinem Land infrage und forderte ultimativ die versprochene Visumfreiheit für Türken. Die Antwort kam prompt: „In keinem Fall darf sich Deutschland oder Europa erpressen lassen“, sagte SPD-Chef Sigmar Gabriel. Ähnlich äußerte sich auch CDU-Vize Thomas Strobl. „So haben Staaten nicht miteinander umzugehen“, sagte er der „Rheinischen Post“ (Dienstagsausgabe). Quelle: dpa
Mevlut CavusogluDie türkische Regierung hat Befürchtungen in der EU genährt, dass sie den Flüchtlingspakt mit der Union aufkündigen und damit eine neue Zuwanderungswelle nach Europa auslösen könnte. Außenminister Mevlut Cavusoglu setzte der Europäischen Union am Sonntag ein Ultimatum zur Aufhebung der Visumspflicht. Das Flüchtlingsabkommen funktioniere, weil sein Land "sehr ernsthafte Maßnahmen" ergriffen habe, etwa gegen Menschenschmuggler, sagte Cavusoglu der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Montagausgabe) nach einer Vorabmitteilung. "Aber all das ist abhängig von der Aufhebung der Visumpflicht für unsere Bürger, die ebenfalls Gegenstand der Vereinbarung vom 18. März ist", sagte er. Quelle: AP

Doch was geschieht, wenn das nicht gelingt und die Türken das Abkommen kündigen? In Brüssel will man davon nichts wissen. „Die Kommission hat einen Plan A, und der besteht darin, den EU-Türkei-Deal zum Erfolg zu führen“, ließ die Brüsseler Behörde mitteilen.

Knaus glaubt der EU-Kommission nicht. „Plan B existiert längst“, sagte der gebürtige Österreicher. Wenn die Zahl der Flüchtlinge auf den griechischen Inseln wieder signifikant steige, sei das Abkommen kaum noch zu retten. Die ost- und südeuropäischen Länder würden sich dann abschotten – genau wie Ungarn. „Das darf Europa nicht zulassen“, fordert Knaus.

Wie Europas Plan B eigentlich aussehen müsste

Wenn es so käme, hätte sich die Fraktion rund um Viktor Orban durchgesetzt. Der ungarische Premierminister will, dass die einzelnen europäischen Länder ihre Grenzen dicht machen und befestigen – mit Ausnahme Griechenlands wohlgemerkt. Da es sich kaum verhindern lässt, dass Flüchtlinge sich über die Ägäis in Richtung griechische Inseln aufmachen, sollen die Flüchtlinge eben in Griechenland gestoppt werden. Was das bedeutet, konnte die Weltgemeinschaft in Idomeni verfolgen, dem mittlerweile geräumten Flüchtlingslager im Norden Griechenlands an der Grenze zu Mazedonien. Wochenlang harrten dort zigtausende Flüchtlinge aus, um in den Norden weiterzureisen. Doch die Passage in ihr gewünschtes Aufnahmeland Deutschland blieb ihnen mit Stacheldraht und Zäunen verwehrt. Aktuell sind knapp 60.000 Flüchtlinge in griechischen Auffanglagern, sogenannten Hotspots, untergebracht.

Die EU-Kommission setzt auf den Abschreckungseffekt, der sich durch Idomeni aufgebaut hat. Selbst wenn der Türkei-Deal platzt, sollte der Flüchtlingsstrom nicht wieder zunehmen, schließlich sind Europas Grenzen hinter Griechenland dicht – so das Kalkül. Ob Flüchtlinge und Migranten aber wirklich darauf verzichten, nach Europa zu reisen, weil sie möglicherweise an einer Grenze gestoppt werden, ist fraglich. Wer erstmal in der EU ist, hofft weiterzukommen.

Gerald Knaus glaubt, dass sich die Flüchtlingskrise erst dann nachhaltig beruhigen wird, wenn die Europäer ein zentrales Versprechen einhalten und eine „neue Phase einleiten“. Im Türkei-Deal hatten die Europäer zugesichert, Flüchtlinge aus der Türkei direkt zu sich zu holen. Schon vor einem Jahr wurde das in Deutschland diskutiert. Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) hatte damals gesagt, Deutschland könne bis zu eine halbe Million Mensch ins Land holen. Danach wuchsen die Probleme und die Debatte über solche festen Kontingente verebbte.

Wie wirkt der Ausnahmezustand in der Türkei über die Grenzen hinaus?

Knaus hält Flüchtlingskontingente weiterhin für den richtigen Ansatz. „Das würde der Türkei zeigen, dass wir es ernst meinen. Die Europäer haben Kontingente versprochen, jetzt müssen sie liefern“, sagt der Politikberater. Deutschland könnte sich gezielt aussuchen, wen es aufnimmt und Familien wieder zusammenführen. Die illegale Migration würde durch eine legale ersetzt. Und nicht der, der es mit Glück nach Deutschland schafft, bekommt Asyl, sondern der, der sich bewirbt und nach nachvollziehbaren Kriterien ausgewählt wird.

Doch dafür müsste Deutschland zunächst festlegen, wie viele Menschen es pro Jahr aufnehmen will und integrieren kann. Sind es Gabriels 500.000 oder doch eher Horst Seehofers 200.000, die die CSU als Obergrenze definiert hat? Oder ist es eine Zahl dazwischen? Wenn die Flüchtlingskrise nicht wieder außer Kontrolle geraten soll, müssen wir diese Debatte führen – jetzt.

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