Auf der Strecke bleiben die Investitionen – und letztlich auch das Wachstum. Deutsche Unternehmen spüren das bisher kaum. Bei einem Volumen von 35 Milliarden Euro haben die Exporte deutscher Waren nach Russland voriges Jahr einen neuen Rekord erklommen. „Dass der Handel boomt und gleichzeitig die heimische Industrie lahmt, zeigt wie wenig konkurrenzfähig russische Konsumgüter sind“, erklärt ING-Experte Polewoj. Von der Schwäche der Russen profitieren deutsche Auto-, Maschinen- und Anlagenbauer. Volkswagen ist dank eines eigenen Werks in Kaluga südlich von Moskau der Branchenzweite nach dem Lada-Hersteller Awtowas. Deutsche Hersteller haben 2011 allein für sieben Milliarden Euro Stanzmaschinen, Metallpressen und CNC-Fräsen in den Osten geliefert.
Prognose Welt-Automarkt 2012
Nach Prognosen des Center of Automotive Management in Bergisch Gladbach steigen die Absätze im US-Markt auf 14 Millionen Pkw und leichte Nutzfahrzeuge. Das ist der höchste Stand seit 2007.
In China wird in 2012 mit einem niedrigen einstelligen Wachstum gerechnet und einem Absatz von dann 12,6 Millionen Pkw.
Russland könnte mit einem geschätzten Pkw-Absatz von 3,2 Millionen erstmals Deutschland als fünftgrößten Einzelmarkt ablösen.
Für den deutschen Markt wird mit einem leichten Rückgang der Pkw-Neuzulassungen auf etwa 3,1 Millionen gerechnet. Der Pkw-Absatz in Westeuropa wird um fast 6 Prozent sinken.
Aber selbst die Nachfrage nach dem begehrten Label „made in Germany“ sinkt: Seit Jahresanfang verharren die Einfuhren von Maschinen in Russland bei knapp unter zehn Milliarden Euro im Monat – insgesamt, nicht nur aus Deutschland.
Unterm Strich ist die Stimmung der Unternehmen verhalten. Einerseits profitieren deutsche Lieferanten wie Tunnelbauer Herrenknecht aus Baden von staatlichen Großprojekten, die Autobauer von der guten Verbraucherlaune. Aber gerade kleinere russische Unternehmen schrecken vor Investitionen zurück und hamstern ihre Profite. Mehr als 35 Milliarden Euro Kapital sind seit Januar ins Ausland geflossen – das Gros davon sind Exportgewinne. Derweil wandern immer mehr Russen ins Ausland ab, wo sie bessere Perspektiven für sich sehen.
Speisewagen oder Lokomotive
Wozu auch in Russland bleiben? Vielen Unternehmen fällt es auf der Heimaterde schwer, qualifiziertes Personal zu bekommen – von der allgegenwärtigen Korruption und Bürokratie ganz zu schweigen. Textilunternehmerin Olga Malzewa, die unter dem Modelabel Schaluni Kinderjacken für die Härten des russischen Winters nähen lässt, fertigt neuerdings in Vietnam. Für ihre Fabrik in Troitsch bei Moskau fand sie kein Personal, was sie auch auf die Defizite im Bildungssystem zurückführt.
Statt besserer Bildung hat Wladimir Putin im Frühjahr 25 Millionen Jobs für Akademiker versprochen. Wer soll die einstellen, wenn sich kleine Unternehmen nicht entwickeln können, die Wirtschaft kaum wächst? Von Putin, dem Dauer-Regenten von Russland, sind Unternehmer sowieso enttäuscht. Viele hatten gehofft, er würde die Zeit nach der Krise von 2009 für Reformen nutzen, die Wirtschaft liberalisieren, herausführen aus der Rohstoffabhängigkeit. Es war einmal der Traum, dass Russland zur Lokomotive der Weltwirtschaft wird. In Wahrheit ist das Land der Speisewagen, aus dem sich jeder bedient – und der in der Krise aufs Abstellgleis geschoben wird.