Laut schallt David Ricardos Stimme durch das Parlament: Das Übel der Schulden müsse abgebaut werden, proklamiert er. Kein Opfer sei dafür zu groß, und er sei bereit, notfalls eigenes Land zu verkaufen, um seinen Beitrag zu leisten. "Hört, hört!", rufen Abgeordnete spöttisch.
David Ricardo will, dass der Staat seine Schulden abbaut – und zwar auf einen Schlag. Der englische Ökonom ist kaum drei Monate Abgeordneter, als er seine Pläne 1819 dem Parlament in London vorstellt. Mit einer Vermögensteuer will er das Geld eintreiben und innerhalb von wenigen Jahren den durch den Krieg gegen Napoleon angehäuften Schuldenberg abtragen. Denn die Schuldenlast treibe die Lebensmittelpreise und zermürbe die Wirtschaft.
Die Schulden von heute, sind die Steuern von morgen
Doch die Abgeordneten sind wenig begeistert. Ricardos Gedanken erscheinen zu radikal. Der Plan, so kritisiert ein Abgeordneter, stamme von einem Mann, "der zwar gut gerechnet und viel gelesen, aber der niemals die Menschen studiert" habe. Ricardo argumentiert anders: Die Schulden von heute seien die Steuern von morgen, für die Bürger mache es keinen Unterschied, ob sie die Schulden mit einem Schlag oder über Jahre durch Steuern abzahlen müssen. Das Vermögen der Steuerzahler ändere sich dadurch nicht. Der Bürger wisse bei steigenden Staatsausgaben, dass er die dafür vom Staat aufgenommenen Schulden irgendwann zurückzahlen müsse. Daher bilde er Rücklagen, um die künftige Steuerschuld zu begleichen beziehungsweise seinen Konsum zu stabilisieren. Das aber gehe zulasten der aktuellen Konsumausgaben.
Dies ist der Kern der sogenannten "Ricardianischen Äquivalenz", an der sich Ökonomen bis heute abarbeiten – und die auch 200 Jahre später noch ein wichtiges Argument gegen schuldenfinanzierte staatliche Konjunkturprogramme darstellt. Ricardo sieht keinen Nutzen in schuldenfinanzierten Ausgaben, weil sich eine konjunkturanregende Wirkung – wenn überhaupt – nur kurzfristig einstelle. Nach Ricardos Theorie können höhere Staatsausgaben den Konsum nicht steigern. Am Ende trage immer der Konsument die Zinslast für die Kredite des Staates, argumentiert er. Wenn der Staat einen Kredit aufnimmt, zahlt der Bürger die Kreditzinsen über seine Steuern. Im Fall einer einmaligen Vermögensabgabe zur Tilgung der Schulden würde der Bürger für die Abgabe selbst einen Kredit aufnehmen – und müsste genauso Zinsen bezahlen.
Kritiker werfen Realitätsferne vor
Ricardos Theorie basiert auf mehreren Annahmen: Er setzt voraus, dass jeder Haushalt sich zu einem einheitlichen Zinssatz und quasi unbegrenzt Geld leihen kann, und dass die Menschen die Steuerbelastungen voraussehen und überdies rational handeln. Kritiker werfen Ricardo deshalb Realitätsferne vor. John Maynard Keynes, als Verfechter einer antizyklischen Ausgabenpolitik der wirtschaftspolitische Kontrapunkt zu Ricardo, sah in dem 111 Jahre älteren Ökonomen einen Tagträumer: "Ricardo bietet uns die höchste geistige Leistung, unerreichbar für schwächere Geister, eine hypothetische Welt außerhalb der Wirklichkeit anzunehmen, als ob sie die Welt der Wirklichkeit wäre, und dann beständig in ihr zu leben", schreibt Keynes.
Ob die Menschen tatsächlich vorausschauend und rational denken, daran hatte indes auch Ricardo bisweilen Zweifel. Es könne schwierig sein, einen Mann mit einem Vermögen von nur 20 000 Pfund davon zu überzeugen, dass eine Steuer von 50 Pfund in jedem Jahr genauso schwer wiege wie eine einmalige Zahlung von 1000 Pfund, schrieb er. Trotzdem plädierte Ricardo für eine sofortige Rückzahlung von Kriegsschulden – auch aus politischen Gründen: "Wenn die Last des Krieges mit einem Mal und ohne Abschwächung gefühlt werden muss, sollten wir weniger gewillt sein, uns mutwillig in einen teuren Kampf zu begeben."