Tauchsieder
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Sherlock Holmes und die Erfindung der Spieltheorie

Bentham, List und Thünen, Schumpeter, Keynes und Coase – der Kasseler Volkswirt Björn Frank schreibt ein listiges Büchlein über Große der Zunft und eine kleine Kritik seiner Branche.

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Wer schon immer wissen wollte, warum Sir Arthur Conan Doyle einen Ehrenplatz in der Walhalla der Ökonomen verdient, der Kommunismus sich dem Beinbruch eines Lebensmüden verdankt oder wie das ethische Problem der Organspende sich ganz alltagspraktisch lösen ließe, hier wird er fündig. Der Kasseler Volkswirt Björn Frank skizziert in „Zu Keynes passt das nicht“ das „Leben und Sterben“ von zwölf Ökonomen: biographische Miniaturen, nicht länger als zwölf Seiten, vollkommen unrepräsentativ – und listigerweise durchzogen mit dem Charme des Morbiden.

Denn indem Frank ausgerechnet den Tod der Branchenhelden als Fixpunkt und Verbindungsmerkmal seiner knappen Essays wählt, unterläuft er schon in formaler Hinsicht das traditionelle Selbstverständnis seiner Zunft, mit überzeitlichen Modellen und mathematisch beweisbaren Gesetzen gewissermaßen außerhalb der Geschichte zu stehen. Demgegenüber gelingt es Frank (oft) auf feinsinnige Weise, seinen Figuren historisch Gestalt zu geben: Er zeigt, wie stark sich das Denken der Spitzenökonomen ihrer Zeitgenossenschaft verdankt – wie prägend die Zeit für Theorien ist, bevor Theorien die Zeit prägen.

Das ist keineswegs denkmalschändend gemeint, sondern im Gegenteil als stille Verbeugung zu verstehen, weil Frank die zwölf Ökonomen auf diese Weise dem entstellenden Zugriff zitathungriger Keynote-Speaker entzieht und ihre zentralen Ideen der blöden Vernutzung im Dienste des Zitierenden. Auch die leise Ironie, mit der er seine Miszellen intoniert, verrät, dass Frank sich eine liebevolle Zuneigung zum Fach und seinen Protagonisten erhalten hat – eine Zuneigung, die nur aus dem Wechselspiel von Nähe und Distanz entstehen (und die man jedem Wissenschaftler zeit seines Lebens nur wünschen) kann.

Björn Frank: Zu Keynes passt das nicht. Vom Leben und Sterben großer Ökonomen. Berenberg Verlag, 2019, 152 Seiten, 22 Euro Quelle: Berenberg Verlag

Weshalb das Buch für Nicht-Ökonomen geschrieben, aber auch jedem Ökonomen ans Herz gelegt ist. Jene lernen im Spaziergang das Knappste und Wichtigste über Cantillon- und Besitztumseffekte, Erziehungszölle und Thünen’sche Kreise, Kenynes Bananenparabel und das Coase-Theorem; diese dürften Spaß haben an Franks schrägen Short-Stories über Ökonomen, die in vorgetäuschten Toden, Selbstmorden, Mumifizierungen und politischen Opfertaten enden – und beide Personenkreise gemeinsam dürften den heilsamen Eindruck gewinnen: Die „Wissensgesellschaft“ zeichnet sich nicht durch Weisheit aus, sondern dadurch, dass die Weisheit sukzessive aus ihr verschwunden ist, sich in Wissen ausdifferenziert: Das Allermeiste von dem, was heute hundertfach in so genannten „Studien“ empirisch aufgewiesen wird, wurde von größeren Geistern einst schon „gewusst“.

Arthur Conan Doyle zum Beispiel hat mit Sherlock Holmes und Professor Moriarty die Spieltheorie erfunden (und Niklas Luhmann das weite soziologische Feld der „Beobachtung zweiter Ordnung“ erschlossen). In der Erzählung „Das letzte Problem“ jedenfalls verlässt Sherlock Holmes den Bahnhof London, um sich vor Moriarty nach Dover zu flüchten. Weil aber Holmes bei der Abreise beobachtet, dass Moriarty ihn beobachtet und deshalb fürchtet, Moriarty könne mit einem Schnellzug an ihm vorbei dampfen und ihn in Dover stellen, erwägt Holmes bereits in Canterbury auszusteigen. Aber was, wenn Moriarty erwägt, dass Holmes erwägt, dass Moriarty erwägt, in Canterbury (oder in Dover) auszusteigen... – ein unlösbares, zirkelschlüssiges ad-infinitum-Problem.

Aber ist es das wirklich? Oskar Morgenstern glaubte es wohl. Die Ökonomie, gedacht als Sozialwissenschaft, verdankt dem Mann aus Görlitz viel, weil er über einen ausgeprägten Sinn für die Ort- und Zeitgebundenheit wirtschaftswissenschaftlichen Arbeitens verfügte: Die Prognose eines Ökonomen, so Morgenstern, basiert, anders als bei einem Physiker oder Meteorologen, nicht auf Erfahrungswissen. Deshalb muss die Prognose eines Ökonomen, will sie eintreffen, eine (prognostizierbare?) Wirkung der Prognose berücksichtigen ... Noch so ein unlösbares, zirkelschlüssiges Problem? Heute ist Morgenstern vor allem dafür bekannt, dass er den lösungsorientierten John von Neumann dafür gewinnen konnte, mit ihm einen Klassiker zu schreiben: „Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten“ – vor punkt 75 Jahren erschienen.

Jeremy Bentham Quelle: imago images

Nicht alle Skizzen gelingen Björn Frank. Ausgerechnet die Abschnitte über Joseph Schumpeter und John Maynard Keynes, vielleicht die beiden schillerndsten Figuren, sind schwach geraten. Die Kapitel über Alexander Tschajanow, Heinrich Freiherr von Stackelberg und Günter Schmölders haben keinen Zug, kein Drama, keinen Fluchtpunkt, mäandern ziellos ins Leere und sind nicht mal von lexikalischem Wert. Dagegen sind die Texte über Jeremy Bentham, Friedrich List und Johann Heinrich von Thünen, auch über John von Neumann, kleine Preziosen. So bringt Frank etwa das Kunststück fertig, die Aktualität von Lists Gedanken (für China und andere Schwellenländer) ganz aus den politischen Gegebenheiten und dem Denken seiner Zeit entstehen zu lassen – und uns auf diese Weise die Bedeutung von Infrastrukturinvestitionen und der Protektion von „infant industries“ umso eindrücklicher vor Augen zu führen.

Und was wäre wohl gewesen, wenn List 1841 den Posten als Chefredakteur der Rheinischen Zeitung angenommen, wenn er sich nicht das Bein gebrochen, den Job daher ausgeschlagen hätte? Wenn nicht an seiner statt Karl Marx berufen worden und Friedrich Engels wenig später ins Redaktionsbüro spaziert wäre? Sieben Jahre später – zwei Jahre nach Lists Selbstmord – erscheint das Kommunistische Manifest ...

Und wie lässt sich das Problem mit der Organspende lösen? Jeremy Bentham, der große Weltverbesserer, hatte da vor 200 Jahren eine Idee. Wobei es zu seiner Zeit nicht Ärzten und Patienten an Organen mangelte, sondern Pathologen an Leichen. Und damit der Nachschub auf den Seziertischen nicht gotteslästerlich und schwarzhändlerisch von „Auferstehungsmännern“ besorgt werden musste, die sich nachts auf Friedhöfen herumtrieben und möglichst frische Körper exhumierten, schlug Bentham vor: Patienten, die sich in Krankenhäusern behandeln lassen wollen, müssen einverstanden sein, sich im Todesfall sezieren zu lassen.

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