Wirtschaftswissenschaft Werner Sombart - der Geschichtenerzähler

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Großer Tragiker des Kapitalismus

Joseph Schumpeter Quelle: Harvard University Archives, HUGBS 276.90P (3).

Sombart erweist sich in ihm nicht nur als großer Tragiker und Melancholiker des Kapitalismus, sondern vor allem als sein treuer Biograf. Minutiös verfolgt er die Entwicklungspfade und Zäsuren der modernen Wirtschaftsform bis ins tiefe Mittelalter zurück; kraftvoll ordnet er über viele Tausend Seiten hinweg deren Stilformen, Wesenszüge und Erscheinungsweisen – ausgestattet mit einer überbordenden intellektuellen Energie, einer interdisziplinären Offenheit und einem Zuspitzungswillen, für den man ihn zeit seines Lebens mit umfassender Verständnislosigkeit und grenzenloser Bewunderung bedachte.

„Der moderne Kapitalismus“ und seine ausgekoppelten Satelliten, Der Bourgeois sowie „Liebe, Luxus und Kapitalismus“, sind bis heute die originellsten, quellensattesten Bücher zum Thema – wenn man einmal vom Standardwerk Fernand Braudels absieht, dessen frühneuzeitliche Sozialgeschichte (1979/85) Sombart unendlich viel verdankt. Sombart führt – mehr noch als sein Freund Max Weber – den „kapitalistischen Geist“ in die gesellschaftliche Debatte ein – wobei er mit „Geist“ nicht das Normative einer Wirtschaftsethik bezeichnet, die immer nur ein Ausdruck dieses „Geistes“ sein könne, sondern einen nach Kulturen, Berufen, Ländern, Religionen und Zeiten unterschiedenen, veränderlichen Wirtschaftsstil, der die Gesellschaft durchseelt.

Literatur von und über Werner Sombart

Und so spannt der Theoretiker Sombart drei historische Großpanoramen auf (Vor-, Früh- und Hochkapitalismus), denen der Soziologe Sombart drei vorherrschende Weltbilder zuordnet, vor deren Hintergrund der Historiker Sombart wirtschaftsgeschichtliche Prozesse schildert, die der Kulturwissenschaftler Sombart mit unendlich vielen Nachweisen aus Almanachen, Reiseberichten, Haushaltsbüchern oder Memoiren würzt. Sombarts Wirtschaftsgeschichte ist daher zugleich statisch und prozesshaft, einordnend und offen, modellhaft und amorph – und von keinem Wirtschaftsgesetz angekränkelt. Die Menschen sind bei ihm eingebettet in eine vorherrschende Lebenskultur, die sie prägt und beeinflusst – und von der sie sich, in ihr verhaftet, allmählich lösen. Ob und inwieweit sich dabei die Theorie den empirischen Nachweisen verdankt oder die Einzelfunde sich der Theorie unterordnen, lässt sich nicht feststellen.

Ein faustisches Leben

Gewiss, der große Joseph Schumpeter hat bemerkt, dass Sombart vor lauter Theorieschwäche dem Impressionismus zuneige; dass er skizziere, Gesichtspunkte ausstreue, mit Blickpunkten und Formulierungen experimentiere – und dass ihm bei alledem nichts gleichgültiger sei als eine Unstimmigkeit. Und doch wusste Schumpeter ihn eben dafür zu schätzen: Der schiere Reichtum seiner Beobachtungen, deren Wert und Zweck im Widerspruch liege, den sie hervorriefen, bringe ihn zu dem Schluss, dass „unsere Zeit keinen zweiten Wurf dieser Art aufzuweisen hat“.

Sombarts opulenter Schreibstil, seine weitherzige Auslegung von Quellen, seine blühenden Deutungen, die ganze verschwenderische Art seiner Wissenschaftsprosa wurzeln in einem überreich ausgestatteten Leben. Sombart reift im großbourgeoisen Überfluss heran. Sein Vater war vom Landvermesser zum Zuckerindustriellen, Rittergutsbesitzer und preußischen Abgeordneten avanciert. Klein Werner wächst „im Reichtum, im Genussleben der Großstadt auf“, wie sein Doktorvater Gustav Schmoller einmal bemerkte: „Alle Bildungsmittel der Zeit standen ihm zur Verfügung.“ Sombart macht reichlich Gebrauch von ihnen. Bereits auf dem Wilhelmsgymnasium in Berlin entschließt er sich, entzündet von antiken Autoren, Goethe und speziell von dessen „Faust“, sein Leben der „Freiheit meiner Individualität“ zu widmen.

Sombart studiert in Berlin, Pisa und Rom, er logiert in den besten Vierteln, vom Vater reich ausgestattet mit einem festen Jahreskonto von 3000 Mark, er träumt von einem paternalistischen Dasein als Gutsbesitzer „inmitten treuherziger Leute“ und von der „Befreiung der gedrückten Klassen“. Mit 25 promoviert er über „Die römische Campagna“ – die Dissertation ist so etwas wie seine Programmschrift. Sombart preist das natürliche Bauernleben und möchte die „dahindösenden Hinterwäldner“ zugleich „aus der Nacht des Aberglaubens“ reißen; er klagt den italienischen Adel an, seine sozialen Pflichten nicht zu erfüllen, verurteilt die Proletarisierung der Bevölkerung und macht sich für ein übergeordnetes Gesamtinteresse stark. Der Traum vom Staatssozialismus, die Fortschrittsidee, die Kultur- und Kapitalismuskritik – fast alle Themen, mit denen sich Sombart in den nächsten fünf Jahrzehnten beschäftigen wird, sind in seiner ersten Studie vorbereitet.

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