Augmented Reality: Werden die Glassholes 2023 rehabilitiert?

Die Zukunft im Blick: Neue Augmented-Reality-Brillen für die „erweiterte Realität“ könnten der Technologie 2023 endlich größere Nutzerkreise auch im Massenmarkt erschließen.
Man muss schon genau hinschauen, um Ungewöhnliches an der Sonnenbrille des Fallschirmspringers zu entdecken, der aus fast 3000 Metern über dem Südwesten Englands aus dem Flugzeug springt. Mit ihren dunklen Gläsern und dem eng anliegenden schwarzen Kunststoffrahmen, der sich um das Gesicht des Mannes schmiegt, sieht sie kaum anders aus als andere handelsübliche Sportbrillen. Und doch leistet sie weit mehr als im freien Fall nur die Augen vor Wind oder herumfliegendem Zeug zu schützen.
Im schlichten schwarzen Rahmen verbirgt sich nämlich jede Menge Hightech. Von außen unsichtbar, blendet ein kleiner Bildschirm im rechten Brillenglas wichtige Informationen ins Sichtfeld ein, darunter Angaben wie die aktuelle Höhe, die Geschwindigkeit und die Blickrichtung. Project Obsidian heißt die smarte Brille, die sich per App beispielsweise mit Smartphones vernetzen lässt, das Geschehen um einen herum um nützliche Informationen ergänzt und beides so zur Augmented Reality (AR) verbindet, zu Deutsch: zur erweiterten Realität.
Bislang nur ein Nischenprodukt
Entwickelt haben die Brille der britische Spezialausrüster für Fallschirmspringer Ao(n²) aus Bristol und das deutsche Start-up Tooz aus dem baden-württembergischen Aalen, eine Tochter von Zeiss und der Deutschen Telekom. Umgerechnet rund 900 Euro sollen die High-Tech-Gläser kosten, wenn voraussichtlich im nächsten Sommer erste Exemplare an die Kunden verschickt werden.
Damit fügt sich Obsidian in eine ganze Reihe neuer oder überarbeiteter AR-Brillenmodelle ein, die im Laufe des Jahres 2023 auf den Markt kommen. Sie alle dürften dem Einsatz der Technik, die digitale Daten, visuelle Simulationen oder andere virtuelle Informationen ins reale Blickfeld der Brillenträger einblendet, zusätzlichen Schub verleihen. Nachdem er sich bislang vor allem auf wenige Anwendungen in der Nische beschränkt.
Dazu könnte auch die 2022 erstmals vorgestellte Brille Magic Leap 2 vom gleichnamigen US-Start-up gehören. Das Modell, das zwei Minidisplays in den Gläsern besitzt sowie eine zentrale Kamera über dem Nasenbügel, wird 2023 voraussichtlich verfügbar sein – gut vier Jahre nach der Vorstellung des ersten Prototyps.
Glaubt man den Marktforschern von ARtillery Intelligence könnten die Neuheiten den Absatz von AR-Brillen von rund 960.000 Stück im abgelaufenen Jahr bereits im kommenden mehr als verdoppeln – auf gut 2,11 Millionen Stück. 2024 könnte es dann mit knapp vier Millionen Stück erneut eine Verdoppelung des Absatzes geben, so die Prognose.
Es wäre auch die Rehabilitation einer zwar faszinierenden, zugleich aber auch umstrittenen Technik, deren Potenzial mit der Vorstellung von Googles AR-Brille Glass 2013 kurz aufblitzte. Bevor die Brillen dann mit ihrem Mikrodisplay, vor allem aber der integrierten Videokamera ebenso rasch wieder aus dem Markt für Verbraucher verschwanden, weil die ersten Kunden sie unter anderem nutzten, um andere gegen ihren Willen zu filmen – oder zumindest diesen Verdacht erregten. Wer so ein Ding auf der Nase hatte, wurde als „Glasshole“ beschimpft, zu Deutsch in etwa „Arschloch mit Brille“, und als digitaler Voyeur, der mit dem Kameraauge in die Privatsphäre des Gegenübers eindringt, gebrandmarkt.
Während es Google nicht gelang, die Nische der AR-Brillen für die Verbraucher zu erobern, war manch ein Konkurrent seither erfolgreicher: Der Social-Media-Dienst Snapchat etwa hat 2016 mit Spectacles erstmals eine Brille mit integrierter Kamera vorgestellt, die es erlaubt Fotos und Videos aus der Ich-Perspektive aufzunehmen und im eigenen Social-Media-Profil zu veröffentlichen. Facebook und Ray-Ban folgten mit einem ähnlichen Konzept, genannt Stories.
Steuerung per Sprachbefehl
Die ersten Versionen beider Brillentypen konnten nur Bilder und Ton aufnehmen und ließen sich per Sprachbefehl steuern. Inzwischen aber hat Snapchat die vierte Generation seiner Spectacles vorgestellt. Sie verfügt nun ebenfalls über ein integriertes Mini-Display, mit dessen Hilfe die Brille virtuelle Objekte und Informationen dem Träger in einen Teil von dessen Blickfeld einblenden kann. Kaufen kann man das neue Modell noch nicht, ein Vertriebsstart im kommenden Jahr ist für Snapchat wohl aber zumindest eine Option.
Und auch Google hat sich nach dem Glass-Flop nicht komplett aus dem Geschäft mit smarten Brillen zurückgezogen, sondern eine spezielle Version für gewerbliche Nutzer weiterhin vertrieben. Dennoch blieb die erweitere Realität lange nur ein Randthema für den Konzern. Auch das aber könnte sich nun wieder ändern. Denn Google hat nicht bloß bereits 2020 mit dem Unternehmen North einen Entwickler von Datenbrillen übernommen, sondern die Technik offensichtlich auch weiterentwickelt.
Mit dem Projekt Iris hat das Unternehmen auf seiner Entwicklerkonferenz im vergangenen Sommer einen neuen Prototypen einer AR-Brille präsentiert. Diese hat Googles automatischen Übersetzungsdienst Translate integriert und soll übersetzte Sprache oder Texte aus dem Sichtfeld als eine Art Untertitel ins Sichtfeld der Träger einblenden. Ob und wann aus Googles Entwurf ein reguläres Produkt wird, dazu hat sich der Konzern noch nicht geäußert. Gerüchte über einen Marktstart 2023 allerdings kursieren in der Digitalszene.
Das Geraune erinnert an die anhaltenden Spekulationen um die AR-Brille, an der auch Apple angeblich bereits seit Jahren arbeitet. Offizielle Ankündigungen gab es zwar noch nicht, wohl aber fördern Recherchen in den US-Patent- und Markendatenbanken regelmäßig neue Indizien für eine solche Brille zutage. Angeblich soll es mit „Reality OS“ bereits ein eigenes Betriebssystem geben, das es erlauben könnte, eigene Apps auf der Apple-Brille zu nutzen.
Es könnte die nächste Entwicklungsstufe der Digitalisierung werden – nach Laptops, Tablets, Smartphones und smarten Uhren. Und es könnte den Übergang vom mobilen zum visuellen Computing einläuten. Bisher allerdings ist es stets bei Gerüchten geblieben. Angeblich entsprachen alle bisherigen Prototypen nicht dem Anspruch, die Apples Konzernchef Tim Cook an Robustheit, Ausdauer und vor allem intuitiver Bedienbarkeit stellt.
Auch das aber könnte sich 2023 nun ändern. Anfang Dezember erst hat der für seine guten Drähte in Apples Lieferkette bekannte Tech-Analyst Ming-Chi Kuo bei Twitter geschrieben, dass Apple die Auslieferung der bis zu 2000 Dollar teuren AR-Headsets bereits im Januar ankündigen könnte. Wegen noch bestehender Softwareprobleme könnte sich die Auslieferung in großen Stückzahlen allerdings bis in die zweite Jahreshälfte verzögern, so seine Prognose.
Gut möglich, dass dann längst die ersten Fallschirmspringer mit den Obsidian-Digitalbrillen von Ao(n²) und Tooz vor Augen vom Himmel zur Erde hinabgleiten.
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