Klimaschutz und künstliche Intelligenz Mit Algorithmen gegen die Apokalypse

Rechenzentren verbrauchen jede Menge Strom. Quelle: dpa

Klimasünder Kryptowährungen, Stromfresser Streaming: Automatisierung macht Prozesse effizienter, belastet aber auch die Umwelt. Der Staat sollte Hersteller von Soft- und Hardware deshalb zur „Sustainability by Design“ verpflichten. Ein Gastbeitrag.

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Viele Bereiche des Lebens sind bereits digitalisiert, im Alltag, aber auch in der Industrie: Algorithmen perfektionieren Ernteintervalle in der Landwirtschaft, machen Klimaveränderungen in Echtzeit sichtbar und lassen Windräder automatisch stoppen, wenn sich große Vogelscharen nähern. Sogar in Wasserkraftwerken werden künftig wohl keine Sicherheitsingenieure mehr den Takt angeben, sondern eine künstliche Intelligenz (KI) mit Unterwassermikrofonen, die Turbinen kontrollieren, und Robotern, die Dammmauern überprüfen.

So kann gerade die Automatisierung helfen, mehr Nachhaltigkeit zu erreichen. Gelingt es der Bundesrepublik, die grüne und die digitale Transformation als „Twin Transitions“ miteinander zu verbinden, kann sie zur Vorreiterin einer technologischen Krisenbewältigung avancieren. Die neue Ampelkoalition sollte dafür zeitnah die Rahmenbedingungen für Regulierung und Anreize schaffen. Die beschleunigte Digitalisierung und immer spürbarere Klimakrise dulden keinen Aufschub mehr.

KI als Klimasünder 

Denn die disruptive Kraft digitaler Technologien stiftet nicht nur Nutzen: Automatisierte Prozesse hinterlassen einen ökologischen Fußabdruck. Zunehmende Transaktionen mit Kryptowährungen verbrauchen reichlich Energie, ebenso die neuen Formen der KI: Lernende Systeme durchlaufen eine aufwendige Trainingsphase, um Aufgaben treffsicher zu lösen. Dafür müssen Hochleistungsrechner enorme Mengen an Energie aufbringen. Um das neuronale Netz GPT-3 darauf zu trainieren, selbstständig Texte zu generieren, verbraucht das System laut einer Oxford-Studie so viel CO2 wie 50 bis 60 Autos pro Jahr zusammen.

Rebound-Effekte verschärfen das Problem: Sobald die Effizienzmaschine Digitalisierung im ersten Schritt Einsparungen erzielt hat, steigt oftmals die Nutzungsintensität. Videos aus dem Internet zu streamen, statt sie auf DVDs zu brennen, spart zwar Aufwand und Material. Die Inhalte werden dann aber umso häufiger abgerufen, der Stromverbrauch schwillt an. Die Gesamtbilanz verkehrt sich ungewollt ins Negative.



Der Gesetzgeber sollte der rasanten technologischen Entwicklung nicht nur interessiert zuschauen, sondern frühzeitig die Weichen für ein harmonisches Zusammenspiel zwischen Bio- und Technosphäre stellen. Er ist aufgerufen, geeignete Anreize zu setzen und regulatorische Instrumente zu entwickeln, damit IT-Systeme dazu beitragen, Umweltziele zu erreichen. Für eine Gesellschaft, die sich den beiden Leitzielen Digitalisierung und Klimaschutz verschrieben hat, führt daran kein Weg vorbei. Denn gelingt es der Weltbevölkerung nicht, das Steuerrad rechtzeitig herumzureißen, wird die „schleichende Apokalypse“ (Hans Jonas) unaufhaltsam ihre Kreise ziehen.

Algorithmen haben keine Agenda 

Bei der Suche nach Antworten steht das Umweltrecht vor einer Herausforderung: Seine Grundstrukturen sind bislang kaum auf digitale Systeme zugeschnitten. Es geht noch vom überkommenen Leitbild der körperlichen „Anlage“ aus, die in der IT allenfalls eine untergeordnete Rolle spielt. Es hat Kraftwerke mit mechanischen Bestandteilen vor Augen, nicht eine hochdigitalisierte Talsperre. Im Zeitalter der Digitalisierung sollte das Umweltrecht seine Perspektive erweitern – und den Blick verstärkt auf die Steuerungskraft der Algorithmen ausrichten.

Algorithmen haben keine Agenda, sie sind also nicht per se Umweltsünder oder Umweltengel, sondern folgen den Zielvorgaben ihrer Schöpfer. Das macht sie zu einem wichtigen Hebel: Durch passgenaue Programmierung lassen sich algorithmenbasierte Steuerungsmechanismen auf klar definierte ökologische Ziele ausrichten.

„Normungsroadmap“ für Green-IT

Der Staat sollte deshalb die Hersteller von Soft- und Hardware dazu verpflichten, Umweltschutz durch Technikgestaltung zu betreiben. Sie müssten ihre Produkte und Anlagen dann qua gesetzlichen Befehls auf den übergreifenden Leitgedanken „Sustainability by Design“ ausrichten. Für eine zielsichere Umsetzung im Bereich neuer Technologien fehlt es derzeit aber noch an klaren technischen Leitlinien für das Produktdesign. Deutschland braucht eine „Normungsroadmap“ – nicht nur für KI, sondern auch für Green-IT.

Als wichtige Steuerungsressource für umweltfreundliche Technikentwicklung erweisen sich insbesondere die Voreinstellungen, denen jedes algorithmische System gehorcht. Ihre Wirkmacht folgt einer einfachen Logik: Nutzer ändern die Werkseinstellungen eines Geräts typischerweise nicht ab, auch wenn die Hersteller ihnen diesen Weg eröffnen.

Der Gesetzgeber kann diesen Default-Effekt in den Dienst des Umweltschutzes stellen. Er könnte Hersteller und Betreiber dazu verpflichten, ihre Voreinstellungen am Gebot der Umweltfreundlichkeit auszurichten (Sustainability by Default).

Energiesparmodus als Regelfall

Der Energiesparmodus wäre dann grundsätzlich der voreingestellte Regelfall. Bevorzugt die Standardkonfiguration eines Systems umweltschonendes Verhalten, fördert sie einen nachhaltigen Konsum. Wenn Nutzer bewusst einen hohen Energieverbrauch in Kauf nehmen wollen, müssen sie die Voreinstellungen selbst aktiv ändern.

Der Staat ist zudem gut beraten, seine Marktmacht als Großeinkäufer in die Waagschale zu werfen. In öffentlichen IT-Vergabeverfahren könnte er Produkten mit grünem Softwaredesign Vorrang einräumen und dadurch zum Durchbruch verhelfen. Bei der Förderung digitaler Innovationen sollte künftig nicht nur der Daten-, sondern auch der Umweltschutz als Auswahlkriterium eine noch stärkere Rolle einnehmen.

Auch die Umweltverwaltung sollte digitale Aufsichtsinstrumente stärker aufnehmen. An die Stelle schriftlicher Berichte, angekündigter Vor-Ort-Termine oder anlassbezogener Einzelkontrollen zum Zustand einzelner Anlagen treten im Idealfall digitale Kontrollen in Echtzeit aus der Ferne. 

Algorithmus statt Sachbearbeiter mit Aktenordner

Eine Software untersucht eine Anlage dann mithilfe von Sensoren gezielt auf Unregelmäßigkeiten oder auffällige Muster, ohne dass ein Sachbearbeiter Aktenordner von vorne bis hinten durchforsten muss. Das spart Zeit sowie Aufwand – und trägt dazu bei, das allseits beklagte Vollzugsdefizit im Umweltrecht zu reduzieren.

Die Entwicklung zu einer grünen Digitalisierung sollte der Gesetzgeber darüber hinaus durch einen allgemeinen Zugang zu offenen Datenräumen („European Data Spaces“) flankieren. Denn ohne valide Grundlage („Real Data“) lassen sich lernfähige Systeme schwerlich auf Umweltschutz und präzise Prognosen trainieren. Auch die Daten privater Big-Data-Kollektoren sollten dazu beitragen. Verbleiben umweltbezogene Informationen allein in privaten Datensilos, lässt sich ihr Erkenntniswert nicht vollständig für das Gemeinwohl fruchtbar machen. Es ist deshalb zu begrüßen, dass die EU-Kommission Unternehmen in bestimmten Bereichen dazu verpflichten will, ihren Datenschatz mit öffentlichen Stellen zu teilen.

Hackerangriffe auf Kraftwerke

Aber auch das Recht der IT-Sicherheit ist gefragt. Denn digitale Technik macht sicherheitsrelevante Umweltanlagen nicht nur effizienter, sondern zugleich verletzlicher. Hackerangriffe auf Kraftwerke können verheerende Auswirkungen zeitigen. Ein umweltspezifischer rechtlicher Handlungsrahmen fehlt dafür allerdings bislang. Deutschland braucht normative Mindeststandards, die sicherstellen, dass digitale Technik die Umwelt im Ergebnis tatsächlich schützt, statt sie zu schädigen.

Der Staat steht vor der zentralen Frage: Wie kann er „Umwelt in die Algorithmen“ bringen und die Risiken lernfähiger Softwareanwendungen für Umweltziele minimieren? Für Deutschland und die EU liegt darin auch eine Chance: Gelingt es, die grüne und die digitale Transformation als „Twin Transitions“ zu verknüpfen, kann der alte Kontinent weltweit zum Pionier einer technologischen Krisenbewältigung avancieren. 

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Um den europäischen Binnenmarkt auf das Ziel einer digitalen und zugleich klimaneutralen Zukunft einzuschwören, braucht es jedoch mehr als wohlfeile Absichtserklärungen. Dass die neue Ampel-Koalition laut ihrem Vertrag „die Potentiale der Digitalisierung für mehr Nachhaltigkeit nutzen“ will, ist ein gutes Zeichen. 

Maßnahmen der Ministerien müssen koordiniert werden

Welches Ministerium welche Maßnahmen einläuten soll, bleibt aber unklar. Die Koalitionäre dürfen sich nun nicht im Gefolge parteipolitischer Profilierung entlang der Grenzen der Ressortverteilung verhaken. Sonst wird das vollmundige Versprechen digitaler Nachhaltigkeit eine Leerformel bleiben. 

Dass für den Gesetzgeber die Uhr tickt, hat jüngst auch das Bundesverfassungsgericht unterstrichen: „Die Schonung künftiger Freiheit verlangt auch, den Übergang zu Klimaneutralität rechtzeitig einzuleiten.“ Die politischen Akteure sollten das als Weckruf verstehen.
 

Mario Martini ist Lehrstuhlinhaber an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer, er war Regierungsberater in der Datenethikkommission. Michael Kolain koordiniert den Programmbereich "Digitalisierung am Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung, den Martini leitet. Die Autoren haben zum Thema gemeinsam mit Dr. Hannah Ruschemeier (CAIS) ein Gutachten für das Umweltbundesamt verfasst.

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