Mathias Binswanger „Die Pandemie hat dazu geführt, dass es zwei Schulen gibt“

In Forschungsfeldern wie der Medizin können aus den gleichen Daten auch widersprüchliche Theorien abgeleitet werden. Quelle: Getty Images

Team Drosten oder Team Streeck? Für den Ökonomen Mathias Binswanger ist auch das am Ende: eine Frage des Glaubens. Ein kleines Gespräch über die Illusion empirischer Eindeutigkeit.

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Mathias Binswanger ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten und Privatdozent an der Universität St. Gallen. Er forscht in den Bereichen Makro- und Glücksökonomie und ist Autor vieler Bücher, darunter „Geld aus dem Nichts“ (2015) und „Der Wachstumszwang“ (2019).

WirtschaftsWoche: Herr Binswanger, der bayerische Ministerpräsident Markus Söder zählt sich in der Coronapandemie zum „Team Vorsicht“. Er will damit sagen: Ich folge tendenziell dem Rat von Wissenschaftlern, die davon überzeugt sind, dass „harte“ Lockdowns die Verbreitung des Coronavirus stark eindämmen. Andere Wissenschaftler kommen zu anderen Ergebnissen. Wie kann das sein? Liegen nicht allen Forschern dieselben Daten vor?
Doch, aber Rohdaten als solche sagen oft noch nicht viel aus. Sie müssen zuerst statistisch aufbereitet und zurechtgestutzt werden. Durch eine „geeignete“ Auswahl der Daten und des Zeitraums und eine „geeignete“ Manipulation der Daten, durch die Auswahl „geeigneter“ statistischer Verfahren und auch durch die Nichtpublikation von Resultaten, die der eigenen Position widersprechen, lassen sich dann postulierten Zusammenhänge je nach Interesse der Forscher bestätigen oder falsifizieren. So hat die Coronapandemie in Deutschland etwa dazu geführt, dass es so etwas wie zwei „Schulen“ gibt, Team Drosten versus Team Streeck. Auch hier konzentriert sich jedes Team auf Daten und Kennzahlen, welche die eigene Meinung unterstützen und findet Gründe, warum die Daten der Gegenseite nicht zuverlässig oder irrelevant sind.

Und wie sollen wir Bürger damit umgehen?
Die Bevölkerung ist gezwungen, dem einen Team mehr Glauben zu schenken, als dem anderen, wobei das Pendel je nach Situation immer wieder auf die eine oder andere Seite ausschlägt. Generell ist der Unterschied zwischen Glauben und Wissen viel kleiner, als wir meinen. Auch in der Wissenschaft bin ich letztlich gezwungen, dieser oder jener Studie, dieser oder jener Theorie, oder diesem oder jenem Wissenschaftler – also etwa Drosten oder Streeck – zu glauben. Was in einer bestimmten Zeit „Wissen“ ist, stellt sich später auch immer wieder als Irrglaube heraus. So „wusste“ man im 18. Jahrhundert, dass es einen Feuerstoff namens Phlogiston gibt. Heute „weiß“ man: Es gibt ihn nicht.

Sie glauben also auch nicht, dass die Verfügbarkeit über immer mehr Daten ein Plus an wissenschaftlicher Eindeutigkeit mit sich bringen wird?
In den Sozialwissenschaften ist das noch weniger der Fall als in der Medizin. Der Einsatz von Algorithmen erlaubt in neuester Zeit die Verarbeitung von Datenmengen, von denen man früher nicht einmal zu träumen wagte. Versteht man unter „empirische Wissenschaft“, dass immer mehr empirische Untersuchungen unternommen werden, ist etwa auch die Volkswirtschaftslehre heute eine empirische Wissenschaft. Dennoch lassen sich entscheidenden Fragen nicht empirisch beantworten. Ganz im Gegenteil: Die Resultate können heute durch geeignete Auswahl von Daten („data dredging“) und Methoden, durch Annahmen bestimmter statistischer Verteilungen, Filter und die Auswahl von Kontrollvariablen immer raffinierter beeinflusst werden. Immer bessere statistische Verfahren und Daten führen also nicht dazu, dass die Ökonomie eindeutige Antworten auf Forschungsfragen geben kann. Statt dessen „bewegt“ man sich buchstäblich durch immer raffinierter konstruierte, komplexe Datenwelten.

Sie sprechen von einer „empirischen Illusion“.
Die Tatsache, dass sich aus denselben Daten widersprechende Ergebnisse herausdestillieren lassen, ist typisch für die empirische Ökonomie. Ein Beispiel aus der Glücksökonomie mag die empirische Illusion besonders gut illustrieren. Im Jahr 1973 veröffentlichte der amerikanische Ökonomen Richard Easterlin einen Artikel, in dem er erstmals das nach ihm benannte Easterlin-Paradox beschrieb. Es besagt, dass in einem Land zu einem bestimmten Zeitpunkt die Zufriedenheit der Menschen tendenziell umso größer ist, je mehr Einkommen sie haben – aber dass das subjektive Glücksgefühl, wenn der Wohlstand ein gewisses Niveau erreicht hat, nicht mit dem Wirtschaftswachstum zunimmt. Zu Beginn des neuen Jahrtausends tauchte dann ein neues Autorenduo auf, Justin Wolfers und Betsey Stevenson, das das Easterlin-Paradox in Frage stellte. Die beiden Forscher kamen in ihren empirischen Arbeiten jedes Mal zum Ergebnis, dass die Zufriedenheit von Menschen auch in hoch entwickelten Ländern eben doch mit dem Wirtschaftswachstum Schritt hält – dass es also das Easterlin-Paradox gar nicht gibt.

Wirtschaftswissenschaftler Mathias Binswanger. Quelle: Presse

Und - wer hat nun recht?
Ich glaube (!), Easterlin hat recht. Die Lebenszufriedenheit der Menschen nimmt im Durchschnitt mit steigendem Einkommen in hochentwickelten Länder nicht mehr zu. Stevenson und Wolfers müssen mit diversen statistischen Kunstgriffen arbeiten, um die These von Easterlin zu „falsifizieren“. Und für die USA gelingt es ihnen selbst dann nicht.

Läuft Ihre Branche mit Big Data in eine Sackgasse weil sie dem Phantom der empirischen Evidenz und Exaktheit überzeugter denn je hinterher jagt?
In der Ökonomie kann man die Wahrheit, wie übrigens in allen „social sciences“, nur von verschiedenen Seiten einkreisen, nie von einer Seite erfassen. Deshalb braucht es unterschiedliche Vorgehensweisen und Methoden, einen theoretischen und methodischen Pluralismus. Eine ausschließliche Fokussierung auf exakte Modelle und komplexe statistische Verfahren bringt uns der Realität nicht näher. Im Gegenteil. Sie verfestigt mehrere „Wahrheiten“, die sich unversöhnlich gegenüberstehen.

Schon Joseph Schumpeter hat 1948 in seiner Präsidentenrede vor der American Economics Association seine Kollegen vor Blindheit gegenüber ihren subjektiven Vorurteilen gewarnt - und ihnen ins Stammbuch geschrieben: „Ein fallender Stein sieht für den Kapitalisten und Proletarier gleich aus. Die Sozialwissenschaften teilen diesen Vorteil nicht.“
Schumpeter war ein sehr gescheiter Mann. Schon damals drohte die Ökonomie sich zu vereinseitigen in Richtung Mathematik und Modellierung, wodurch eine Pseudoobjektivität geschaffen wurde. Heute kommt hinzu: Ein exakt formuliertes Modell innerhalb des theoretischen Mainstreams oder eine komplizierte ökonometrische Untersuchung rangieren in der wissenschaftlichen Hierarchie viel höher als alternative Modelle, deskriptive Beschreibungen oder die Untersuchung historischer Abläufe. Das muss sich ändern, damit die Ökonomie wieder an Relevanz gewinnen kann.

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