Man nimmt die Nachrichten vom großen Artensterben fast mit Gleichmut hin heutzutage, so sehr hat man sich an sie gewöhnt, an den warnenden Ton, an die Sprache der Sorge, an den geschäftsmäßigen Notruf. Jede dritte der 72.000 Tier-, Pflanzen- und Pilzarten in Deutschland ist gefährdet, mahnt das Bundesamt für Naturschutz vor drei Wochen, die Wildbiene zum Beispiel, das Rebhuhn und der Kiebitz. 82 von 451 Vogelarten in Europa stehen auf der „Roten Liste“ der bedrohten Tiere, schimpft kurz darauf die Organisation Birdlife International, darunter die Schnee-Eule, der Balearensturmtaucher und die Weidenammer.
Von einer „alarmierenden Krise“ spricht man beim Bundesamt, von „schockierenden Daten“ bei den Vogelschützern; schuld am Massensterben seien eine intensive Landwirtschaft, verengte Lebensräume und natürlich der Klimawandel. Andererseits: Sind die Flüsse nicht viel sauberer als vor 30 Jahren? Sind nicht Wolf und Luchs zurück in Deutschland? Hat nicht der Biber wieder was zu knabbern? Und wurden nicht zuletzt sogar wieder Seeadler gesichtet? Wer weiß, vielleicht ruckelt sich das Ganze ja wieder zurecht…?
Nichts ruckelt sich zurecht, schreibt die amerikanische Wissenschaftsjournalistin Elizabeth Kolbert in ihrem Buch „Das sechste Sterben“*, das in den Vereinigten Staaten mit dem Pulitzerpreis bedacht wurde und soeben auf Deutsch erschienen ist, im Gegenteil: Amphibien, die am meisten bedrohte Tierklasse der Erde, sterben heute 45.000 Mal schneller aus, als es die Evolution mit ihrer natürlichen Schwundrate vorsieht. Ein Drittel aller Korallen, Haie und Rochen, ein Viertel aller Säugetiere, ein Fünftel aller Reptilien und ein Sechstel aller Vögel drohen auf Nimmerwiedersehen von der Erdoberfläche zu verschwinden – und damit nicht zuletzt auch: der Mensch.
Das Ausmaß des gegenwärtigen Massensterbens lasse sich nur mit den fünf großen Katastrophen der Erdgeschichte vergleichen, so Kolbert, etwa mit der Klimakatastrophe am Ende des Perm (vor 250 Millionen Jahren), als sich die Meere während eines geologischen Wimpernschlags von 100.000 Jahren um 10 Grad erwärmten und eine massive Konzentration von Kohlenstoff neunzig Prozent aller Spezies vernichtete. Oder mit dem Einschlag des Asteroiden, der vor 66 Millionen Jahren den Übergang von der Kreidezeit ins Tertiär markierte: Der Bolide schlug damals mit einer Geschwindigkeit von 70.000 km/h auf der Halbinsel Yucatan ein, brachte die gesamte Erdoberfläche zum Kochen und machte den Dinosauriern den Garaus.
Nun also das sechste Massensterben. Es hat im Unterschied zu den fünf anderen keine natürlichen Ursachen, so Kolbert, vollzieht sich beinahe so plötzlich wie vor 66 Millionen Jahren und verbreitet sich als eine Art Virus. Dieser Virus heißt homo sapiens.
Versauernde Meere und Korallenskelette
Das Thema ist nicht neu. Und die Pointe des Buches seit Jahren schon ein Comedy-Hit unter Umweltbewegten: „Treffen sich zwei Planeten im Weltall. Sagt der eine: ‚Hast schon mal besser ausgesehen!‘ Sagt der andere: `Ich weiß. Hab‘ homo sapiens.‘ Darauf der Erste: ‚Hatte ich auch mal. Geht vorüber.‘“ Und doch ist das Buch von Elisabeth Kolbert ein Volltreffer, ein Musterbeispiel für guten Wissenschaftsjournalismus: auf unterhaltsame Weise lehrreich, aufregend nüchtern und in seinem Beispielreichtum gnadenlos präzise.
Zahlen zur Erderwärmung
...forderte die Hitzewelle von 2003 allein in Frankreich.
...Dollar Mehrkosten für den globalen Küstenschutz.
weniger Hitze in Wüstenstädten dank optimaler Luftströmung.
Versauernde Meere, Korallenskelette und die Entwaldung der Tropen, Iridiumschicht, Aragonitsättigung und Impakthypothese, der Überlebenskampf von Seepocken, Riesenalks und Stummelfußfröschen – aus allen Gegenden der Erde und Himmelrichtungen der Wissenschaft trägt Kolbert faszinierende Fakten zusammen, setzt sie in Beziehung zueinander und verdichtet sie mit texthandwerklicher Sicherheit zu einer großen Erzählung.
Was bleibt von der selbsternannten Krone der Schöpfung?
Im Zentrum dieser Erzählung steht das so genannte „Anthropozän“, in dem der Mensch nicht erscheint (Max-Frisch-Leser wissen: das war im Holozän), sondern seine geologischen Spuren hinterlassen haben wird: „Selbst ein mäßig kompetenter Stratigraf“, so Kolbert, werde in hundert Millionen Jahren erkennen können, „dass in dem Zeitraum, der für uns Gegenwart ist, etwas Außergewöhnliches passiert ist…, obwohl alles, was wir für große Werke des Menschen halten – Bibliotheken, Museen, Städte, Fabriken - zu einer Sedimentschicht verdichtet sein wird, die kaum dicker sein wird als ein Zigarettenpapierchen.“
Außergewöhnlich an diesem Satz ist zunächst einmal der Gedanke, der ihm zugrunde liegt: Nur eine Spezies, die anmaßend genug ist, sich für die Krone der Schöpfung zu halten, kann auch auf die vermessene Idee verfallen, sie könne in die Annalen der Geologie eingehen. Was also ist wirklich dran an der Theorie des Anthropozän? Was genau ist das Außergewöhnliche, mit dem der Mensch in der erdzeitlichen Millisekunde der vergangenen 200 Jahre angeblich nachhaltig in planetarische Prozesse eingreift? Und ist dieses Außergewöhnliche wirklich so außergewöhnlich, wenn man bedenkt, dass 99 Prozent aller Arten, die je auf der Erde in den Genuss von Sonnenlicht und Sauerstoff kamen, längst ausgestorben sind?
Evolutionäres Hintergrundsterben
Elisabeth Kolbert beantwortet diese Fragen nicht mit dem bebenden Ton eines Bestseller-Apokalyptikers. Sondern sie dekonstruiert alle Einwände, Schritt für Schritt, mit analytischer Schärfe und rhetorischem Schliff, in einer Art wissenschaftlichem Indizienprozess, den sie gegen das Virus des modernen Wirtschaftsmenschen führt.
Der Riesenalk zum Beispiel, eine Art Urpinguin, der sich bis zu seiner Entdeckung vermutlich in millionenfacher Auflage von Norwegen bis Italien aufhielt, war für den Menschen als Nahrungsmittel, Fischköder und Matratzenfüllung so ergiebig, dass seine Bestände sich im Laufe des 18. Jahrhunderts drastisch reduzierten. Und weil seine Bälge und Eier unter Adligen damals noch dazu als Trophäen die Runde machten, kann Kolbert uns minutiös nachweisen, dass das letzte Riesenalk-Pärchen im Juni 1844 auf einer kleinen, zur Island gehörenden Insel namens Eldey von drei namentlich bekannten Männern erwürgt wurde.
Die Kollateralschäden der Globalisierung
Eine anekdotische Geschichte, gewiss. Aber wenn man bedenkt, dass sich das natürliche, evolutionäre „Hintergrundaussterben“ in einem viel langsameren Tempo vollzieht - alle 700 Jahre zum Beispiel trifft es eines von insgesamt 5500 Säugetieren -, ist man doch ein wenig geschockt über das Schulterzucken, bei dem man sich soeben ertappt hat.
Zumal das von Menschen absichtsvoll angezettelte Artensterben harmlos ist im Vergleich zu den Kollateralschäden der Globalisierung. In Mittelamerika zum Beispiel meuchelt der aus Europa oder Afrika eingeschleppte Chytridpilz den Panama-Stummelfußfrosch dahin, während die nicht-indigene braune Baumnatter auf Guam alle Singvögel verschlingt - um nur zwei Beispiele von Hunderten zu nennen.
Eine Erde, ein Kontinent - Pangäa reloaded
Der Grund dafür ist denkbar einfach: Als der homogene Urkontinent Pangäa auseinanderbrach, nahmen die Arten auf den veschiedenen Kontinenten je ihre eigenen Entwicklungswege. Heute sorgt die interkontinentale Vernetzung durch den Menschen dafür, dass die Biodiversität sich wieder entdifferenziert. Eine Erde, ein Kontinent - Pangäa reloaded.
Interessant daran ist unter anderem, dass dieser Vorgang Darwins Theorie der natürlichen Zuchtwahl und evolutionären Vervollkommnung außer Kraft setzen kann: Spezies etwa, so Kolbert, die an die Lebensbedingungen in Australien oder Asien besonders gut angepasst sind, sind besonders wahrscheinliche Globalisierungsverlierer.
Eindrücklich schildert Kolbert die Folgen der Industriellen Revolution und der explodierenden Kohlendioxid-Emissionen. Dazu nimmt sie den Leser mit auf ihre Reisen, unter anderem ins schottische Hochland, zum australischen Great Barrier Reef, in die Tropenwälder von Peru und Brasilien. Kolbert trifft Botaniker, Ornithologen, Entomolgen (Insektenforscher), Herpetologen (Reptilienforscher), Pflanzenpathologen und Stratigrafen (Erdschichtenforscher).
Der Kampf gegen die Plastiktüten
Plastiktüten sind für ihr Gewicht ganz schön stabil. Doch was Verbraucher freut, kann der Umwelt schaden. Hunderte Jahre kann es dauern, bis die praktischen Tragetüten sich in der Natur zersetzen. Kleinteile werden von Seetieren wie Fischen und Vögeln gefressen.
Nach Zahlen aus dem Jahr 2010 kommen jedes Jahr etwas weniger als 100 Milliarden Plastiktüten in Europa in Umlauf. Das entspricht 198 Tüten pro Jahr und Bürger, die meisten davon Einwegtüten. Deutschland steht laut Handelsverband Deutschland (HDE) gut da. Das sei auch dem durch den grünen Punkt bereits weit verbreiteten Recyclingsystem zu verdanken. In Deutschland liege der Verbrauch bei jährlich 76 Tüten pro Kopf, die EU-Kommission spricht mit Blick auf das Jahr 2010 von 64 Einwegtüten.
Genau. Nach derzeitigem Stand soll jeder EU-Bürger Ende 2019 nur noch 90 Einwegtüten verbrauchen pro Jahr, Ende 2025 nur noch 40 Tüten. Ganz dünne Tüten, die es etwa an der Gemüsetheke gibt, wären aber ebenso wie stabile Mehrfachtüten nicht betroffen. Genauso gut könnte es Abgabegebühren geben oder Steuern für den Einzelhandel. Die Regierungen hätten die Wahl - Hauptsache, die Tüte wäre nicht mehr kostenlos. Auch andere Maßnahmen mit ähnlicher Wirkung wären möglich.
„Das bedeutet für die Verbraucher und Verbraucherinnen und insbesondere den Einzelhandel eine Neuausrichtung zu bewussterem und ökologischerem Konsum“, meint Leif Miller, Bundesgeschäftsführer des Naturschutzbundes Deutschland (NABU). Die Umweltschutzorganisation European Environmental Bureau (EEB) ist zwar grundsätzlich ebenfalls erfreut. Allerdings hätte sich die Organisation auch ein Verbot spezieller neuartiger Tüten gewünscht. Diese geben aus Sicht von Kritikern vor, biologisch abbaubar zu sein, obwohl sie es nicht sind. Dies soll nun aber die EU-Kommission erst einmal untersuchen.
Der Branchenverband Plastics Europe argumentiert, man unterstütze zwar eine Gebühr für alle Taschen, egal aus welchem Material. Doch die Möglichkeit nationaler Verbote könne zu Handelshemmnissen in Europa führen. Das bemängelt übrigens auch die FDP-Europaabgeordnete Gesine Meißner.
Sie schildert, wie Baumarten in Folge des Klimawandels die Anden hinauf wandern (bis die Gipfel erreicht sind und es nichts mehr zum Hinaufwandern gibt), wie die allmähliche Versauerung der Meere kalkbildende Foraminiferen und Korallen daran hindert, sich zu gewaltigen Skeletten zu verbrüdern und wie die Fragmentierung von Lebensräumen, etwa durch Rodungen, das Artensterben in den Tropen beschleunigt, weil zum Beispiel Wanderameisen ausreichend Platz brauchen, aber nicht mehr vorfinden und aussterben - Wanderameisen, auf deren Begleitung sich einige Vögel spezialisiert haben, von deren Kot sich wiederum Schmetterlinge ernähren usw.
Was Kolberts Buch besonders lesenswert macht: Sie kann sich nicht entscheiden, ob und wenn ja: welche Schlussfolgerungen sie ziehen soll. Der Leser ist hin- und hergerissen zwischen so manchen Endzeitsätzen der Forscher und atemberaubenden Zahlen (Der Mensch hat den PH-Wert der Ozeane in 50 Jahren auf einen Wert gedrückt, wie ihn die Erde seit 50 Millionen Jahren nicht mehr gesehen hat) einerseits - und andererseits dem merkwürdig beruhigenden Gefühl, dass der Mensch für die Erde sein muss, was die Fliege für die Kuh ist: ein mäßig lästiges, restlos bedeutungsloses Gezücht.
Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos
Was zum Beispiel soll man von der erdgeschichtlich einmaligen Explosion der Artenvielfalt nach dem Meteoriteneinschlag vor 66 Millionen Jahren halten? Die Dinosaurier hat’s damals hart getroffen, sicher. Dafür waren die Säugetiere die großen Gewinner. Überspitzt gesagt: Ohne den Meteoriten gäbe es heute keine Menschen, die sich über das Artensterben Gedanken machen könnten. Oder in den Worten von Elizabeth Kolbert: Allein dem Kometentreffer ist zu verdanken, dass ihr formidables Werk „von einem behaarten statt von einem schuppigen Zweibeiner“ verfasst wurde.
Wie viel Müll jährlich recycelt wird
Recycelt: 100%
Quelle: Statistisches Bundesamt, Stand 2012
Recycelt: 80%
Verbrannt: 20%
Recycelt: 99%
Recycelt: 99%
Biomüll = Park- und Gartenabfälle sowie Abfall aus Biotonnen
Recycelt: 16%
Verbrannt: 84%
Recycelt: 57%
Verbrannt: 43%
Am Ende schnurrt das Buch auf eine simple, vielleicht auch naive Botschaft zusammen: Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos. Der Mensch hat die Natur, die Artenvielfalt und sich selbst in Gefahr gebracht - nun ist es an ihm, sich wieder aus der Bredouille zu befreien.
Im Abschluss-Kapitel schildert Kolbert, wie Sumatra-Nashörner gepflegt und Hawaii-Krähen am Bauch massiert werden, um ihnen Ejakulat abzugewinnen. Das ist dann vielleicht doch ein bisschen zu viel des Guten. Was soll’s.
Es wird Leser geben, denen das Buch nicht streng und stringent genug ist, denen der Mix aus anekdotischer Reportage und leicht verständlicher Wissenschaftsprosa nicht gefällt. Man kann auch die fehlende Arbeit am Begriff bemängeln: Beim sechsten Sterben handelt es sich selbstverständlich nicht um eine Katastrophe, sondern im Gegenteil: um ein verantwortetes Massensterben. Aber das ist Mäkelei auf hohem Niveau. Haben wir nicht neben allem auch noch gelernt, wie die Theorien des Massensterbens und der Evolution, des Aktualismus und des Transformismus in die Welt kamen - als das Ergebnis eines wissenschaftlichen Kräftemessens im 19. Jahrhundert, an dem so schillernde Figuren wie Jean Cuvier, Jean-Baptiste Lamarck, Charles Lyell und Charles Darwin beteiligt waren? Ja, das haben wir. Und können schließen: Allein dafür lohnt sich die Lektüre.
*Elizabeth Kolbert, Das 6. Sterben, Wie der Mensch Naturgeschichte schreibt, Suhrkamp, 24,95 Euro (e-book 21,99 Euro)