In den frühen Morgenstunden hatte sich in Nowa Kachowka eine schwere Explosion ereignet. Die Ukraine wirft Russland vor, Staudamm und Wasserkraftwerk gesprengt zu haben, um die geplante ukrainische Gegenoffensive zu stören. Moskau bestreitet das und behauptet, die ukrainische Armee habe die Anlage beschossen. Bundeskanzler Olaf Scholz hat die Zerstörung des Kachowka-Staudamms in der Ukraine als „neue Dimension“ in dem Krieg bezeichnet. Die Behörden in Nowa Kachowka haben den Notstand ausgerufen.
WirtschaftsWoche: Herr Schüttrumpf, laut der örtlichen Behörden ist der Wasserstand in Nowa Kachowka – der Stadtteil von Kachowka, der direkt am Staudamm liegt – bereits um mehr als zehn Meter angestiegen. Wie gefährlich ist die Situation?
Holger Schüttrumpf: Der Schaden am Kachowka-Staudamm ist gewaltig. Zum Vergleich, zehn Meter Wassertiefe hatten wir bei der Flutkatastrophe im mittleren Ahrtal. Das sind unvorstellbare Wassermengen, die ausströmen. Das Gefährliche ist aber gar nicht die Wassermenge, sondern die Kombination aus hoher Wassertiefe und hoher Strömungsgeschwindigkeit. Sie führt zu den entsprechenden Verwüstungen. In der Vergangenheit haben solche Versagensfälle an Staudämmen dazu geführt, dass große Landstriche überflutet wurden und die Überflutungen üblicherweise auch stärker sind als diejenigen, die man zum Beispiel bei einem Hochwasserereignis hat.
Zur Person
Holger Schüttrumpf ist Professor an der RWTH Aachen und Direktor am Lehrstuhl und Institut für Wasserbau und Wasserwirtschaft. Er forscht unter anderem zu Themen wie Hochwasserschutz, Hochwasserrisikomanagement, Talsperren und Wasserkraft.
Die Behörden evakuieren nun zahlreiche Menschen, gerade seien etwa 80 Ortschaften bedroht. Der Kachowka-Staudamm bröckelt örtlichen Behörden zufolge weiter, es heißt, das strömende Wasser sei nicht kontrollierbar. Wie schnell müssen sie dabei vorgehen?
Sie müssen sofort handeln, man hat ganz, ganz wenig Zeit. Die Strömungsgeschwindigkeit ist so hoch, dass man die Ortschaften in einem hohen Tempo evakuieren muss. Der Stausee kann 18,1 Milliarden Kubikmeter Wasser speichern. Zum Vergleich: Die zweitgrößte Talsperre Deutschlands ist die Rurtalsperre Schwammenauel in der Eifel. Sie kann 203 Millionen Kubikmeter speichern – die in der Ukraine fasst also hundertmal mehr Volumen, als eine der größten Talsperren Deutschlands. Deshalb muss man in dem Fall evakuieren, weil man sich vor diesen Wassermengen anderweitig nicht schützen kann.
Bilder zeigen das Ausmaß des gesprengten Staudamms. Wie groß dürfte der entstandene Schaden sein?
Das Grundbauwerk ist 3,6 Kilometer lang und eine Kombination aus einem Damm und einer Mauer. Auf den Bildern sieht man: Versagt hat die Staumauer aus Beton, nicht der Staudamm. Der Damm wiederum ist ein Bauwerk, das an der Stelle üblicherweise aus Schüttsteinen oder Erdmaterial aufgeschüttet ist. Nun fließt das Wasser durch diese Bresche durch – die Anlage ist ja nicht über die gesamte Breite gebrochen, sondern es ist ein Element, das versagt hat. Das Wasser wird nun so lange herausströmen, bis der Stausee leer ist.
Die Behörden sagen: der Schaden ist irreparabel. Wie kompliziert ist es, einen so großen Schaden zu reparieren?
Es ist zu früh, genaueres dazu zu sagen. Reparieren kann man dieses Betonbauwerk schon, das ist in einem Kriegsgebiet aber aufgrund der Rahmenbedingungen wahrscheinlich nicht machbar. Aber grundsätzlich muss man das Betonbauwerk entfernen, all die Trümmer, und dann diese Mauer wieder aufbauen. Das kann Jahre dauern.
Hat man den Staudamm als kritische Infrastruktur unterschätzt?
Es ist eigentlich bekannt, dass ein Staudamm kritische Infrastruktur ist und dass er im Kriegsfall versagen kann. Ein Beispiel aus der Vergangenheit ist der Möhnestausee in Nordrhein-Westfalen, der 1943 bei einem Angriff der Alliierten beschädigt worden ist. Das ist eine vergleichbare Situation mit der, die wir momentan in der Ukraine haben. In Deutschland sind damals bei der Möhnekatastrophe etwa 1500 Menschen gestorben.
Lesen Sie auch: „Ich mache mir Sorgen um die Ukraine“