
Die EU-Kommission war offenbar bereits im Jahr 2010 über Hinweise informiert, dass es Abweichungen bei den Abgaswerten von Dieselautos gab. Das berichtet "Spiegel Online" unter Berufung auf interne Dokumente. Die Schreiben sollen zeigen, dass innerhalb der Kommission und mit den Regierungen über das Thema diskutiert wurde. Zudem sollen Vertreter der Bundesregierung bereits 2012 an einem Treffen teilgenommen haben, bei dem es um Abgas-Manipulationen ging, so "Spiegel Online".
Einfache Beobachtungen ergaben, dass sich die Luftqualität in Städten weniger schnell verbesserte als es angesichts der strenger werdenden Vorschriften für Abgas-Emissionen zu erwarten gewesen wäre.
Um die Ursache für diese Abweichung zu finden, beauftragte Die Kommission das Joint Research Centre (JRC), eine gemeinsame Forschungsstelle, die Abgaswerte im realen Fahrbetrieb zu messen. Die am JRC entwickelte Technologie trug laut dem Bericht später auch maßgeblich dazu bei, Volkswagen in den USA der Manipulation zu überführen.
Eines der Schreiben, das auf den 8. Oktober 2010 datiert sein soll, hält fest, dass es "wohlbekannt" sei, dass es eine Diskrepanz zwischen den Emissionen von Dieselautos bei der Typenzulassung und im normalen Fahrbetrieb gebe. Es sei auch klar, woran das liege: am "verbreiteten Einsatz gewisser Minderungstechnologien in Dieselfahrzeugen".
Es ist nicht wörtlich die Rede davon, dass die Abgasreinigung nur innerhalb eines gewissen, auf den Prüfstandstest optimierten Bereich ordnungsgemäß funktioniert – was heute als "Thermofenster" bekannt ist. Die Beschreibung deutet jedoch auf solche Praktiken hin, wobei die Reinigung unter bestimmten Bedingungen abgeschaltet oder zumindest reduziert wird. Derartiges ist in der EU seit 2007 verboten.
Die Abgas-Tests in Deutschland und Europa
Neue Modelle werden in Deutschland und der EU nach dem Modifizierten Neuen Fahrzyklus (MNEFZ) getestet. Die Tests laufen unter Laborbedingungen, das heißt auf einem Prüfstand mit Rollen. Dies soll die Ergebnisse vergleichbar machen. Der Test dauert etwa 20 Minuten und simuliert verschiedene Fahrsituationen wie Kaltstart, Beschleunigung oder Autobahn-Geschwindigkeiten.
Getestet wird von Organisationen wie dem TÜV oder der DEKRA unter Beteiligung des Kraftfahrt-Bundesamtes (KBA). Dieses untersteht wiederum dem Verkehrsministerium.
Die Prüfungen der neuen Modelle werden von ADAC und Umweltverbänden seit längerem als unrealistisch kritisiert. So kann etwa die Batterie beim Test entladen werden und muss nicht - mit entsprechendem Sprit-Verbrauch - wieder auf alten Stand gebracht werden. Der Reifendruck kann erhöht und die Spureinstellungen der Räder verändert werden. Vermutet wird, dass etwa der Spritverbrauch im Alltag so häufig um rund ein Fünftel höher ist als im Test.
Neben den Tests für neue Modelle gibt es laut ADAC zwei weitere Prüfvorgänge, die allerdings weitgehend in der Hand der Unternehmen selbst sind. So werde nach einigen Jahren der Test bei den Modellen wiederholt, um zu sehen, ob die Fahrzeuge noch so montiert werden, dass sie den bisherigen Angaben entsprechen, sagte ADAC-Experte Axel Knöfel. Zudem machten die Unternehmen auch Prüfungen von Gebrauchtwagen, sogenannte In-Use-Compliance. Die Tests liefen wieder unter den genannten Laborbedingungen. Die Ergebnisse würdem dann dem KBA mitgeteilt. Zur Kontrolle hatte dies der ADAC bei Autos bis 2012 auch selbst noch im Auftrag des Umweltbundesamtes gemacht, bis das Projekt eingestellt wurde. In Europa würden lediglich in Schweden von staatlicher Seite noch Gebrauchtwagen geprüft, sagte Knöfel.
Die EU hat auf die Kritik am bisherigen Verfahren reagiert und will ab 2017 ein neues, realistischeres Prüfszenario etablieren. Damit sollen auch wirklicher Verbrauch und Schadstoffausstoß gemessen werden ("Real Driving Emissions" - RDE). Strittig ist, inwiefern dafür die bisherigen Abgas-Höchstwerte angehoben werden, die sich noch auf den Rollen-Prüfstand beziehen.
Maßnahmen wurden anhand der vorliegenden Ergebnisse keine getroffen. Auch im weiteren Verlauf hat es mehrmals die Möglichkeit zum Eingreifen gegeben. So soll im Mai 2012 ein Kommissionsberater die zuständigen Ministerien in mehreren EU-Ländern über das Treffen einer Arbeitsgruppe informiert haben, bei dem die Einführung von realen Fahrtests für die Typzulassung eines neuen Autos diskutiert wurde. Die Autohersteller leisteten "heftigen Widerstand", ein möglicher Grund könne der Wunsch sein, "die Tür offen zu lassen" für die Umgehung von Abgastestzyklen, so die Dokumente.
Wenige Monate später wurde EU-Industriekommissar Antonio Tajani vom Autozulieferer Schrader Electronics per Brief und in einem persönlichen Treffen über die Softwaremanipulationen der Autohersteller informiert. Die WirtschaftsWoche hatte bereits im November 2015 über diesen Brief berichtet. Seine Nachfolgerin als EU-Industriekommissarin, Elżbieta Bieńkowska, hatte im Oktober 2015 dem Parlament berichtet, dass die Kommission erst 2014 von Abgasmanipulationen erfahren habe.
Was sie damit meinte, ist jetzt bekannt: Im November 2014 bekam die Generaldirektion Unternehmen und Industrie, die Tajani unterstand, Post aus dem Umweltressort. Dessen Generaldirektor Karl Falkenberg forderte offenbar seinen Amtskollegen Daniel Calleja Crespo unverblümt auf, endlich seinen Job zu machen: Er solle prüfen, ob "gewisse aktuelle Praktiken, die vom JRC und anderen ausgiebig dokumentiert wurden", gesetzeskonform sind. Falkenberg beschreibt demnach genau diese illegalen Praktiken, die Abgasreinigung nur innerhalb eines bestimmten Temperaturfensters laufen zu lassen. Die EU-Kommission erklärt dagegen bis heute, nichts von illegalen Praktiken gewusst zu haben.