Die Ökonomie des Überbuchens Wie Airlines mit überbuchten Flügen kalkulieren

In den USA wird ein Reisender brutal aus einem überbuchten Flugzeug gezerrt. Der Fall sorgt für Aufsehen - und wirft Fragen auf. Denn für Airlines ist die Überbuchung eine Wahrscheinlichkeitsrechnung, die meist aufgeht.

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Voll besetzter Flug. Quelle: dpa

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Flieger. Tasche gerade verstaut, angeschnallt, „ready for take-off“. Plötzlich steht ein Sicherheitsbeamter neben Ihnen und fordert Sie auf den Flieger wieder zu verlassen. So ist es am Wochenende einem Passagier auf einem United-Airlines-Flug von Chicago nach Louisville passiert. Das Gespräch endet brutal.

Ein Video zeigt, wie das Sicherheitspersonal den Mann gewalttätig zwingt, das Flugzeug wieder zu verlassen. Die verwackelte Aufnahme endet damit, wie der Passagier über den Boden des Kabinengangs zum Ausgang des Flugzeugs geschleift wird. Millionen Menschen haben den Film bereits gesehen. Für United Airlines ist es ein Image-Gau.

Die Ursache für diesen Vorfall liegt wohl erst einmal in einem brutal auftretenden Sicherheitspersonal begründet. Dafür entschuldigte sich der Vorstandsvorsitzende von United, Oscar Munoz, mittlerweile. Der Sicherheitsmitarbeiter wurde bis zur Klärung der Vorfälle beurlaubt. Der Ursprung, wie es überhaupt dazu kommen kann, dass ein Passagier seinen Flug nicht antreten darf, liegt woanders: der Ökonomie des Überbuchens.

Das Überbuchen von Inlandsflügen ist in den USA üblich. Die Fluggesellschaften rechnen auf vielgebuchten Strecken damit, dass pro Flug einige Passagiere nicht erscheinen und nehmen mehr Buchungen an, als Sitzplätze zur Verfügung stehen.

Im vergangenen Jahr mussten nach offiziellen Angaben fast eine halbe Million Fluggäste zurückbleiben, obwohl sie einen Flug gebucht und bezahlt hatten. In den meisten Fällen nehmen sie die Angebote der Fluglinien an, die oft Gutscheine für Rabatte oder Freiflüge ausgeben.

Überbuchung als Kalkül auch in Europa

Gleiches gilt für die europäische Luftfahrtbranche - allerdings sind die Rechte der Fluggäste besser geschützt. Davon abgesehen sind Überbuchungen an sich aber auch in Europa keine Besonderheit. Zwar gibt es für Europa keine aktuellen Zahlen, doch die Luftfahrtbranche macht keinen Hehl daraus, dass Überbuchungen ein fester Bestandteil in der Strecken-Kalkulation der Fluggesellschaften. „Es handelt sich um eine gängige Praxis im Airline-Geschäft“, bestätigt Lufthansa-Sprecherin Anja Lindenstein gegenüber WirtschaftsWoche Online. „So können wir die Auslastung unserer Flüge optimieren.“

Fluggastrechte - Der Weg zur Entschädigung

Das Konzept hinter den systematischen Überbuchungen ist denkbar einfach: „Erfahrungsgemäß erscheinen nicht alle Passagiere zu ihrem gebuchten Flug“, erläutert Carola Scheffler vom Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft. „Aus ökonomischer und ökologischer Sicht ist es jedoch sinnvoll, dass möglichst alle Plätze im Flugzeug besetzt sind.“ Damit die Zahl der freien Plätze im Flugzeug also möglichst gering ausfällt, überbuchen Fluggesellschaften Flüge deshalb zu einem gewissen Prozentsatz.

Welche Rechte Passagiere haben

Die Airlines berechnen hierfür aus Erfahrungswerten, wie viele Passagiere der Wahrscheinlichkeit nach nicht zu ihrem Flug antreten. Das sind die sogenannten „No-Show Passagiere“. Dazu greifen sie auf ihre Datensätze der vergangenen Jahre zurück. „Unser Prognosesystem zeigt uns konkret auf, wie die Auslastung eines Flugs in den vergangenen Jahren war und mit wie vielen No-Shows zu rechnen ist“, erklärt Lufthansa-Sprecherin Lindenstein. Diese Kalkulation wird ergänzt von streckenspezifischen Parametern. Dazu zählen beispielsweise bestimmte Strecken und Zeiträume, auf denen damit zu rechnen ist, dass alle Passagiere erscheinen. Beispielsweise zu Ferienbeginn oder wenn in den Zielstädten wichtige Messen oder Kongresse stattfinden.

„Dass ein Flug überbucht ist, heißt also nicht, dass am Ende nicht alle mitkommen“, relativiert Scheffler. Sollten dann trotzdem einmal zu viele Passagiere zu einem Flug erscheinen, greifen die Fluggesellschaften zum Mittel der Überredungskunst: Zunächst wird also nach Gästen gesucht, die freiwillig vom Flug zurück treten, weil sie im Gegenzug bestimmte Leistungen bekommen – zum Beispiel einen Gutschein, Aufenthalt in der Lounge und Ähnliches. Darüber hinaus steht dem Passagier eine Umbuchung auf einen späteren Flug oder die Rückerstattung des Ticketpreises zu. „In der Regel finden sich Passagiere, die freiwillig vom Flug zurücktreten und die damit die Überbuchung ausgleichen“, so Scheffler.

Überbuchungen sind eine Wahrscheinlichkeitsrechnung der Fluggesellschaften. Ausgleichszahlungen, Gutscheine und Upgrades für Passagiere, die wegen Überbuchung umschmeichelt werden mit einkalkuliert. „Es ist prinzipiell wirtschaftlich, gelegentliche Ausgaben für Kompensation in Kauf zu nehmen für eine optimale Auslastung“, bestätigt Lindenstein. Die Chance an überbuchten Maschinen mehr zu verdienen ist letztendlich höher, als die Kosten – wenn die Wahrscheinlichkeitsrechnung doch einmal schief gegangen ist. Schließlich bleibt eine tatsächliche Überbuchung mit den passenden Algorithmen der Ausnahmefall.

Klare EU-Regeln bei Überbuchung

Welche Entschädigungen die Airlines geben müssen, wurde vor 13 Jahren in der EU-Verordnung 261/2004 geregelt. Seitdem gelten in Europa strenge Regeln, die Passagieren nicht nur bei Verspätung, sondern auch bei Nicht-Beförderung Entschädigung zusichern.

Vertreter von Airlines führten die Verabschiedung dieser Regeln darauf zurück, dass speziell Beamte der EU-Kommission schlechte Erfahrungen mit Fluglinien gemacht hatten. „Bei manchem Beamten, der viel reiste, hatte sich persönlicher Ärger aufgestaut“, hieß es damals in Branchenkreisen.

In dem Vorschlag der EU-Kommission, der 2002 an Parlament und Rat ging, wurde die Kalkulationstaktik der Luftfahrtunternehmen genau beschrieben: "Es werden dann Buchungen bis zu einer Menge angenommen, die der Kapazität des Flugzeugs plus der Anzahl der voraussichtlich nicht erscheinenden Fluggäste entspricht, so dass eine Überbuchung vorliegt.“ Ihre Konsequenz damals: Um die Wirtschaftlichkeit der Unternehmen nicht zu sehr einzuschränken, aber dennoch die Rechte der Passagiere zu stärken, verabschiedete man die EU-Verordnung 261/2004.

Fluggastrechte - Die Rechtsdienstleister im Überblick

Rechtlich ist die Lage damit heute eindeutig: Bei Überbuchungen müssen Airlines in Europa Ersatzflüge anbieten, den Ticketpreis erstatten und Entschädigungen zwischen 125 und 600 Euro zahlen. Konkrete Zahlen zu Entschädigungen infolge von Überbuchungen gibt es nicht.

„Tausende Überbuchungsfälle“

Der Rechtsdienstleister Flightright, der sich auf Entschädigungen für Flugpassagiere spezialisiert hat, erklärt auf Anfrage, man habe aber im Jahr 2016 „tausende Überbuchungsfälle“ bearbeitet.

Die Überbuchungs-Taktik der Airlines

Im Vergleich zu anderen Entschädigungsgründen wie Verspätungen oder Flugstreichungen seien Überbuchungen jedoch nicht so häufig. Zudem seien sie auf kurzen und besonders günstigen Flügen wahrscheinlicher. „Bei den renommierten Airlines wird in den meisten Fällen eine Ersatzbeförderung gestellt, während bei den Billigfluglinien häufig nur der Flugpreis erstattet wird, da einfach weniger Möglichkeiten zur Ersatzbeförderung besteht“, sagt Stefanie Müller von Flightright.

Verbraucherschützer vermuten, dass die Zahl der Beschwerden auch deshalb gering bleibt, weil die gebotenen Kompensationen viele Kunden ausreichend zufriedenstellen.

Die Wahrscheinlichkeitsrechnung der Fluggesellschaften scheint zu funktionieren. Die Ökonomie des Überbuchens ist ein Erfolgsrezept.

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