Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Flieger. Tasche gerade verstaut, angeschnallt, „ready for take-off“. Plötzlich steht ein Sicherheitsbeamter neben Ihnen und fordert Sie auf den Flieger wieder zu verlassen. So ist es am Wochenende einem Passagier auf einem United-Airlines-Flug von Chicago nach Louisville passiert. Das Gespräch endet brutal.
Ein Video zeigt, wie das Sicherheitspersonal den Mann gewalttätig zwingt, das Flugzeug wieder zu verlassen. Die verwackelte Aufnahme endet damit, wie der Passagier über den Boden des Kabinengangs zum Ausgang des Flugzeugs geschleift wird. Millionen Menschen haben den Film bereits gesehen. Für United Airlines ist es ein Image-Gau.
Die Ursache für diesen Vorfall liegt wohl erst einmal in einem brutal auftretenden Sicherheitspersonal begründet. Dafür entschuldigte sich der Vorstandsvorsitzende von United, Oscar Munoz, mittlerweile. Der Sicherheitsmitarbeiter wurde bis zur Klärung der Vorfälle beurlaubt. Der Ursprung, wie es überhaupt dazu kommen kann, dass ein Passagier seinen Flug nicht antreten darf, liegt woanders: der Ökonomie des Überbuchens.
@United overbook #flight3411 and decided to force random passengers off the plane. Here's how they did it: pic.twitter.com/QfefM8X2cW
— Jayse D. Anspach (@JayseDavid) 10. April 2017
Das Überbuchen von Inlandsflügen ist in den USA üblich. Die Fluggesellschaften rechnen auf vielgebuchten Strecken damit, dass pro Flug einige Passagiere nicht erscheinen und nehmen mehr Buchungen an, als Sitzplätze zur Verfügung stehen.
Im vergangenen Jahr mussten nach offiziellen Angaben fast eine halbe Million Fluggäste zurückbleiben, obwohl sie einen Flug gebucht und bezahlt hatten. In den meisten Fällen nehmen sie die Angebote der Fluglinien an, die oft Gutscheine für Rabatte oder Freiflüge ausgeben.
Überbuchung als Kalkül auch in Europa
Gleiches gilt für die europäische Luftfahrtbranche - allerdings sind die Rechte der Fluggäste besser geschützt. Davon abgesehen sind Überbuchungen an sich aber auch in Europa keine Besonderheit. Zwar gibt es für Europa keine aktuellen Zahlen, doch die Luftfahrtbranche macht keinen Hehl daraus, dass Überbuchungen ein fester Bestandteil in der Strecken-Kalkulation der Fluggesellschaften. „Es handelt sich um eine gängige Praxis im Airline-Geschäft“, bestätigt Lufthansa-Sprecherin Anja Lindenstein gegenüber WirtschaftsWoche Online. „So können wir die Auslastung unserer Flüge optimieren.“
Fluggastrechte - Der Weg zur Entschädigung
Ein Anspruch auf Entschädigung besteht, wenn der Kunde aufgrund von Überbuchung oder eines gestrichenen Fluges seine Reise nicht antreten kann oder das Reiseziel mit mindestens dreistündiger Verspätung erreicht. In diesen Fällen gilt laut EG-Fluggastverordnung die Entschädigungspauschale von 250 bis zu 600 Euro. Ab Ende des Jahres, in dem der Flug angetreten wurde, haben Passagiere drei Jahre zeit, ihren Anspruch geltend zu machen.
Quelle: Verbraucherzentrale / Stiftung Warentest
Wer sich dazu entschließt, eine Beschwerde bei der Fluggesellschaft einzureichen, hat drei Möglichkeiten: diese selbst einreichen, den Fall an einen Anwalt übergeben oder auf Dienstleister und Schlichtungsstellen zurückzugreifen, die dabei helfen, Entschädigungen zu erwirken. Stiftung Warentest rät, sich im ersten Schritt an die Airline selbst zu wenden. Ist diese nicht kooperativ, können im zweiten Schritt Schlichter, Anwälte oder Inkassodienste zu Rate gezogen werden.
Dei Verbraucherzetralen helfen Fluggästen mit einer kostenlosen Ersteinschätzung. Die zuständige Zentrale finden Sie unter www.verbraucherzentrale.de/home
Seit dem 1. November 2013 können sich Passagiere außergerichtlich an die private Schlichtungsstelle für den öffentlichen Nahverkehr (SÖP) wenden, wenn deren Rechte von den Fluglinien ignoriert werden. Die Inanspruchnahme der SÖP ist kostenfrei, aber auch unverbindlich.
Viele Fluggäste sind nicht gewillt, den Streit auf eigene Faust anzugehen und übergeben den Fall an einen Anwalt. Die Anwalts- und Gerichtskosten werden für Passagiere mit Rechtsschutz von der Versicherung getragen. In vielen Fällen ist allerdings ein Selbstbehalt von 150 Euro festgelegt. Ohne entsprechenden Rechtsschutz und im Falle einer gerichtlichen Niederlage muss ein Großteil der Kosten für das Verfahren vom Fluggast selbst übernommen werden.
Firmen wie EUclaim, Flightright, Fairplane und refund.me bieten Fluggästen die Möglichkeit, sie bei Entschädigungsforderungen zu unterstützen. Sie erheben - anders als Anwälte - keine Kosten, wenn die Klage erfolglos bleibt. Im Erfolgsfall erhalten sie eine Provision.
Quelle: Stiftung Warentest
Das Konzept hinter den systematischen Überbuchungen ist denkbar einfach: „Erfahrungsgemäß erscheinen nicht alle Passagiere zu ihrem gebuchten Flug“, erläutert Carola Scheffler vom Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft. „Aus ökonomischer und ökologischer Sicht ist es jedoch sinnvoll, dass möglichst alle Plätze im Flugzeug besetzt sind.“ Damit die Zahl der freien Plätze im Flugzeug also möglichst gering ausfällt, überbuchen Fluggesellschaften Flüge deshalb zu einem gewissen Prozentsatz.
Welche Rechte Passagiere haben
Die Airlines berechnen hierfür aus Erfahrungswerten, wie viele Passagiere der Wahrscheinlichkeit nach nicht zu ihrem Flug antreten. Das sind die sogenannten „No-Show Passagiere“. Dazu greifen sie auf ihre Datensätze der vergangenen Jahre zurück. „Unser Prognosesystem zeigt uns konkret auf, wie die Auslastung eines Flugs in den vergangenen Jahren war und mit wie vielen No-Shows zu rechnen ist“, erklärt Lufthansa-Sprecherin Lindenstein. Diese Kalkulation wird ergänzt von streckenspezifischen Parametern. Dazu zählen beispielsweise bestimmte Strecken und Zeiträume, auf denen damit zu rechnen ist, dass alle Passagiere erscheinen. Beispielsweise zu Ferienbeginn oder wenn in den Zielstädten wichtige Messen oder Kongresse stattfinden.
„Dass ein Flug überbucht ist, heißt also nicht, dass am Ende nicht alle mitkommen“, relativiert Scheffler. Sollten dann trotzdem einmal zu viele Passagiere zu einem Flug erscheinen, greifen die Fluggesellschaften zum Mittel der Überredungskunst: Zunächst wird also nach Gästen gesucht, die freiwillig vom Flug zurück treten, weil sie im Gegenzug bestimmte Leistungen bekommen – zum Beispiel einen Gutschein, Aufenthalt in der Lounge und Ähnliches. Darüber hinaus steht dem Passagier eine Umbuchung auf einen späteren Flug oder die Rückerstattung des Ticketpreises zu. „In der Regel finden sich Passagiere, die freiwillig vom Flug zurücktreten und die damit die Überbuchung ausgleichen“, so Scheffler.
Überbuchungen sind eine Wahrscheinlichkeitsrechnung der Fluggesellschaften. Ausgleichszahlungen, Gutscheine und Upgrades für Passagiere, die wegen Überbuchung umschmeichelt werden mit einkalkuliert. „Es ist prinzipiell wirtschaftlich, gelegentliche Ausgaben für Kompensation in Kauf zu nehmen für eine optimale Auslastung“, bestätigt Lindenstein. Die Chance an überbuchten Maschinen mehr zu verdienen ist letztendlich höher, als die Kosten – wenn die Wahrscheinlichkeitsrechnung doch einmal schief gegangen ist. Schließlich bleibt eine tatsächliche Überbuchung mit den passenden Algorithmen der Ausnahmefall.
Klare EU-Regeln bei Überbuchung
Welche Entschädigungen die Airlines geben müssen, wurde vor 13 Jahren in der EU-Verordnung 261/2004 geregelt. Seitdem gelten in Europa strenge Regeln, die Passagieren nicht nur bei Verspätung, sondern auch bei Nicht-Beförderung Entschädigung zusichern.
Vertreter von Airlines führten die Verabschiedung dieser Regeln darauf zurück, dass speziell Beamte der EU-Kommission schlechte Erfahrungen mit Fluglinien gemacht hatten. „Bei manchem Beamten, der viel reiste, hatte sich persönlicher Ärger aufgestaut“, hieß es damals in Branchenkreisen.
In dem Vorschlag der EU-Kommission, der 2002 an Parlament und Rat ging, wurde die Kalkulationstaktik der Luftfahrtunternehmen genau beschrieben: "Es werden dann Buchungen bis zu einer Menge angenommen, die der Kapazität des Flugzeugs plus der Anzahl der voraussichtlich nicht erscheinenden Fluggäste entspricht, so dass eine Überbuchung vorliegt.“ Ihre Konsequenz damals: Um die Wirtschaftlichkeit der Unternehmen nicht zu sehr einzuschränken, aber dennoch die Rechte der Passagiere zu stärken, verabschiedete man die EU-Verordnung 261/2004.
Fluggastrechte - Die Rechtsdienstleister im Überblick
Inkassodienstleister versuchen Fluggesellschaften ohne Mitwirkung eines Gerichts durch Schreiben zum Zahlen von Entschädigungen zu veranlassen. Ist dies nicht zielführend, greifen sie auf Partneranwälte zurück, die dann eine Klage einreichen. Anders als Anwälte erheben sie keine Kosten, wenn die Klage erfolglos bleibt. Im Erfolgsfall erhalten sie eine Provision von bis zu 30 Prozent der Entschädigungssumme.
Link: http://www.euclaim.de
Kosten (bei Erfolg): Provision in Höhe von 22,5 Prozent der anfangs geforderten Entschädigungssumme
Link: https://www.fairplane.de
Kosten (bei Erfolg): 24,5 Prozent der Entschädigungssumme plus Mehrwertsteuer
Link: http://new.flightright.de
Kosten (bei Erfolg): Erfolgsprovision von 25 Prozent (zuzüglich Mehrwertsteuer) der von der Fluggesellschaft ausgezahlten Summe
Link: https://www.refund.me/de/
Kosten (bei Erfolg): 15 Prozent zuzüglich Umsatzsteuer der Entschädigungssumme
Quelle: Stiftung Warentest
Rechtlich ist die Lage damit heute eindeutig: Bei Überbuchungen müssen Airlines in Europa Ersatzflüge anbieten, den Ticketpreis erstatten und Entschädigungen zwischen 125 und 600 Euro zahlen. Konkrete Zahlen zu Entschädigungen infolge von Überbuchungen gibt es nicht.
„Tausende Überbuchungsfälle“
Der Rechtsdienstleister Flightright, der sich auf Entschädigungen für Flugpassagiere spezialisiert hat, erklärt auf Anfrage, man habe aber im Jahr 2016 „tausende Überbuchungsfälle“ bearbeitet.
Die Überbuchungs-Taktik der Airlines
Aus ökonomischen und ökologischen Gründen, heißt es beim Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft. Aus Erfahrungen würden regelmäßig nicht alle Passagiere zu ihrem gebuchten Flug erscheinen. Damit aber möglichst wenige Plätze frei bleiben, werden die Flüge bis zu einem gewissen Prozentsatz überbucht.
Das ist eine individuelle, prozentuale Abwägung je nach Flug. Es hängt von der Strecke, dem Tag und Ereignissen wie Kongressen, Messen oder großen Events ab. Auf der Basis dieser Erkenntnisse und konkreter Erfahrungswerte der Vergangenheit berechnen die Airlines, wie viele Passagiere voraussichtlich ihren Flug nicht antreten. Es wird aber nicht jede Maschine überbucht. Gerade zu Ferienbeginn, bei Großereignissen oder Messen würden die Airlines das Risiko nicht eingehen, heißt es aus der Branche.
Ein Grund können etwa Geschäftsreisende sein, die manchmal mehrere Flüge buchen. Verpasste Anschlussflüge sind ein anderer Grund. Dazu kommen unter anderem persönliche Ursachen wie beispielsweise eine Krankheit oder ein Unfall.
Zunächst wird nach Passagieren gesucht, die freiwillig von dem Flug zurücktreten, heißt es aus der Branche. Sie würden dann auf eine andere Maschine umgebucht. Je nach Entfernung und der Dauer bis zum nächsten Flug gibt es dafür auch Geld. Sollte der nächste Flug erst am nächsten Tag gehen, zahlt die Fluggesellschaft auch eine Hotel-Übernachtung. Die Einzelheiten regelt eine EU-Verordnung. Der Passagier hat zudem die Möglichkeit, auf einen späteren Flug umgebucht zu werden oder sich den Ticketpreis zurückerstatten zu lassen.
Kommt es hart auf hart und es findet sich niemand, der freiwillig dem Flug fern bleibt, so hilft nur Zwang. Bei der Lufthansa heißt es, würde dann der Zeitpunkt des Check-Ins bei der Auswahl der Fluggäste berücksichtigt. Um so eine Situation zu vermeiden, sollten Passagere also so früh wie möglich einchecken.
Bei Ferienflügen gibt es relativ wenig Passagiere, die nicht am Flughafen erscheinen, heißt es etwa bei TUI Fly. Urlauber kämen in der Regel. Daher würden die Maschinen normalerweise auch nicht überbucht. Sollte dies doch einmal passieren, so erkenne dies das Computersystem bereits Tage vor dem Abflug. Den letzten Kunden würde dann rechtzeitig eine Alternative angeboten.
Im Vergleich zu anderen Entschädigungsgründen wie Verspätungen oder Flugstreichungen seien Überbuchungen jedoch nicht so häufig. Zudem seien sie auf kurzen und besonders günstigen Flügen wahrscheinlicher. „Bei den renommierten Airlines wird in den meisten Fällen eine Ersatzbeförderung gestellt, während bei den Billigfluglinien häufig nur der Flugpreis erstattet wird, da einfach weniger Möglichkeiten zur Ersatzbeförderung besteht“, sagt Stefanie Müller von Flightright.
Verbraucherschützer vermuten, dass die Zahl der Beschwerden auch deshalb gering bleibt, weil die gebotenen Kompensationen viele Kunden ausreichend zufriedenstellen.
Die Wahrscheinlichkeitsrechnung der Fluggesellschaften scheint zu funktionieren. Die Ökonomie des Überbuchens ist ein Erfolgsrezept.