Staudamm-Bruch in Brasilien 1200 statt sieben Geschädigte klagen: Massiver Rückschlag für den TÜV Süd

Brumadinho in Brasilien nach dem Dammbruch im Januar 2019. Quelle: dpa

Der TÜV Süd steht unter neuem Druck: Das Landgericht München erlaubt die Forderungen von fast 1200 Opfern des Staudammbruchs nahe Brumadinho. TÜV-Prüfer könnten die Katastrophe mit ausgelöst haben.

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Rückschlag für den TÜV Süd: Kurz vor dem dritten Jahrestag des Staudammbruchs unweit des brasilianischen Ortes Brumadinho hat das Landgericht München I die Wiedereröffnung der Verhandlung angeordnet. Damit ermöglicht es nicht nur die Erweiterung der Schadenersatzklage von bisher sieben auf nunmehr nahezu 1200 Geschädigte und Forderungen von insgesamt gut 440 Millionen Euro gegen den in München ansässigen Prüfkonzern. Auch können die Richter in der Zwischenzeit veröffentlichte weitere Untersuchungen aufgreifen. Eine davon deutet darauf hin, das die Prüfer die Katastrophe mit auslösten.

Dem Konzern, der weltweit mit dem Slogan „Mehr Wert. Mehr Vertrauen“ für seine Dienste wirbt und zuletzt einen Jahresumsatz von 2,5 Milliarden Euro verbuchte, droht neben dem Vertrauensverlust ein finanzieller Megaschaden. Um sich gegen die Vorwürfe zu wehren, hat er bisher zweistellige Millionenbeträge für Beratungs- und Anwaltskosten reserviert, für den Fall der Fälle seine brasilianischen Tochtergesellschaften zur Disposition gestellt. Ob das reicht?

In dem Streit geht es darum, dass eine Tochtergesellschaft des TÜV Süd im Auftrag des brasilianischen Bergbauunternehmens Vale wenige Monate vor der Katastrophe vom 25. Januar 2019 ein Sicherheitszertifikat für den Abraum-Damm einer Eisenerzmine ausstellte. Bei dem Unglück schossen binnen Sekunden 13 Millionen Kubikmetern Schlamm aus einem geborstenen Abraumbecken ins Tal und rissen auf ihrem tödlichen Weg Menschen, Tiere, Häuser und Bäume mit sich. Nach Überzeugung der Kläger ist der Münchner Konzern mindestens mitverantwortlich für den Tod von 270 Menschen sowie immense Umweltschäden in der Region.

Erschwerend komme hinzu, so die Kläger, dass das Zertifikat trotz erheblicher Zweifel an der Stabilität des Staudamms ausgestellt worden sei. E-Mails und Whatsapp-Nachrichten von TÜV-Mitarbeitern, die Ermittler vor Ort sicherstellten und die der WirtschaftsWoche vorliegen, geben Hinweise darauf, wie die Unabhängigkeit des Prüfauftrags mit der Hoffnung auf Neugeschäft kollidiert sein könnte. Strafverfahren in der Sache sind in Brasilien und ebenfalls vor dem Landgericht München anhängig.

Nach der Verhandlung im Musterprozess der Zivilklage am 28. September 2021 wollte die Vorsitzende Richterin Ingrid Henn ursprünglich am 1. Februar eine Entscheidung verkünden. Dieser Termin ist aufgehoben. Die Wiedereröffnung der Verhandlung könnte aus mehreren Gründen nachteilig für den TÜV Süd sein: Dessen Anwälte von der Wirtschaftskanzlei Hengeler Müller hatten beantragt, die Klage abzuweisen. Das Landgericht hält jedoch offenbar weder deren pauschale Zweifel an der Neutralität brasilianischer Ermittler für stichhaltig noch das Argument, dass die Prüfung und Zertifizierung des Damms keine risikobehaftete Tätigkeit sei, für die sich der TÜV verantworten müsse.

Mehr noch: Ein inzwischen im Auftrag der brasilianischen Staatsanwaltschaft erstellter Prüfbericht des Forschungsinstituts „International Centre for Numerical Methode in Engineering“ (CIMNE) an der renommierten Technischen Universität von Barcelona kam am 6. Oktober sogar zu dem Schluss, dass eine von der brasilianischen TÜV-Tochter TSB beaufsichtigte Bohrung am Unglückstag Auslöser für den Dammbruch war. „Die durchgeführten Analysen konnten keine anderen Verflüssigungsauslöser identifizieren“, heißt es wörtlich. Die von den TÜV-Anwälten bisher ins Spiel gebrachten Erschütterungen durch Baufahrzeuge, Beben oder vom Betreiberkonzern Vale verantwortete Sprengungen in der Nähe des Damms schließt das CIMNE als Ursachen aus.

In München wird nach brasilianischem Recht verhandelt. Das ist weniger ungewöhnlich, als es auf Anhieb klingt. Die so genannte Rom-II-Verordnung der EU regelt, welches Recht bei außervertraglichen Schadenersatzansprüchen mit Auslandsbezug anzuwenden ist. Dennoch hatte der TÜV Süd auch dieses Prozedere ursprünglich angefochten. Nach deutschem Recht müsste nämlich eine vorsätzliche und schuldhafte Handlung des TÜV Süd durch eine fehlerhafte Prüfung nachgewiesen werden. Nach brasilianischem Recht reicht es, wenn er sich an einer risikobehafteten Tätigkeit beteiligt hat, die mit den tragischen Ereignissen im Zusammenhang steht. Ebenfalls ausgeräumt wurden nach Ansicht des Klägeranwalts Jan Erik Spangenberg ursprüngliche Zweifel des Gerichts, dass Privatpersonen – und nicht nur Behörden – auf Rechtsverletzungen gemäß dem strengen brasilianischen Umweltrecht klagen dürfen.

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Das Gericht verlangt nun von den Klägern zusätzliche schlüssige Belege, dass der Dammbruch hätte verhindert werden können, wenn die Prüfer die Stabilitätserklärungen nicht ausgestellt hätten. Nach Meinung der TÜV-Anwälte hätten die brasilianischen Behörden in dem Fall weder Arbeiten an der Mine verhindert noch die Evakuierung der Umgebung angeordnet. 830 Angehörige, die vor drei Jahren Töchter, Söhne, Ehefrauen, Ehemänner, Schwestern oder Brüder verloren, warten auf die Entscheidung in München. Außerdem Überlebende, die noch immer an den Folgen des Unglücks leiden. Das EDV-System des Landgerichts wurde von der schieren Zahl der Opfer überwältigt. Ein Verhandlungstermin könnte lauf Anwalt Spangenberg im Sommer stattfinden – und ein Urteil dann womöglich im Frühherbst fallen.

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