Vermeintlicher US-Komplott Das ist der Mann hinter der angeblichen Nord-Stream-Enthüllung

Quelle: REUTERS

Seymour Hersh ist eine Koryphäe des Journalismus. Doch schon zu Watergate-Zeiten waren seine Methoden nicht unumstritten. Wie glaubwürdig ist sein Bericht über die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines?

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Als Host der werktäglichen Nachrichtensendung „Nightline“ hatte sich Ted Koppel eigentlich einen Ruf als unvoreingenommener Fragesteller erarbeitet. „Ted geht nicht mit einer Strategie an seine Gespräche, er hört einfach gut zu“, sagte sein Produzent einmal über ihn. An diesem Abend im Juni 1983 aber hatte sich Koppel doch eine Strategie zurechtgelegt. Sein Ziel, das machte der Gesprächsverlauf offenkundig: einen Printkollegen vorzuführen, der in der berichtenden Branche als Koryphäe galt.

Der Pulitzer-Preisträger Seymour Hersh hatte gerade ein kontrovers diskutiertes Enthüllungsbuch veröffentlicht, das Zweifel am bisherigen Saubermannimage des US-Diplomaten Henry Kissinger wecken wollte. Koppel eröffnete sein Gespräch mit dem Kollegen so: „Einige der Leute, mit denen ich gesprochen habe – ich fürchte leider, sie wünschen, unidentifiziert zu bleiben – haben mir erzählt, dass Sie ihnen Briefe geschickt hätten, in denen stand ‚Geben Sie mir den Schmutz über Henry‘“. Hersh gab sich unbeeindruckt: „Was bitte soll ich darauf antworten? ‚Einige Leute, mit denen ich gesprochen habe‘ – Sie wollen mich wohl veräppeln?“. Er war damit genau in Koppels rhetorische Falle gelaufen: „Das ist ganz schön fies, oder? Es ist gar nicht so einfach, auf Aussagen von anonymen Quellen zu reagieren, was?“, keifte der Host zurück.

Koppels animoser Gesprächseinstieg in den 80ern steht sinnbildlich für die gesamte mehr als 60-jährige Karriere des Seymour Hersh. „Kein Pantheon amerikanischer Reporter könnte ohne ihn auskommen“, sagte Pulitzer-Preis-Kollege Thomas Powers einmal über ihn. Vergleichbare Journalisten seien in der amerikanischen Geschichte „sehr, sehr selten“ – das ist die eine Seite.

Die andere: Hershs journalistische Methoden, insbesondere seine exzessive Verwendung anonymer Quellen, stehen seit jeher in der Kritik. Auf Redakteure, die kritische Nachfragen zu seinen Recherchen stellten, war er nie gut zu sprechen, fand lange Schleichwege, um sie zu übergehen. Die Erkenntnis, dass etwa die Zusammenarbeit mit dem Fact-Checking-Team des „New Yorker“ einen Beitrag zu seiner eigenen Glaubwürdigkeit als Reporter leistete, kam in den Nullerjahren reichlich spät. Und dass dieses Fact-Checking-Team nicht bereitstand, als er in dieser Woche ein Exposé über einen vermeintlichen Komplott der US-Regierung veröffentlichte, trägt nicht gerade dazu bei, seine Recherche zu untermauern. Zumal sich Hershs Erzählung, derzufolge US-Präsident Joe Biden die Nord-Stream-Pipelines sprengen ließ, auf eine einzige anonyme Quelle stützt.

Doch zunächst zurück zu den Meriten: Der heute 85-Jährige ist nicht weniger als ein amerikanischer Volksheld, eine Art „Clark-Kent-Figur“, wie er selbst einmal beobachtete. Clark Kent ist die bürgerliche Tarnidentität des Comic-Helden Superman. Seit den späten 60er-Jahren gilt Hersh als der Aufklärer „gegen die da oben“, denen die anderen Kollegen allzu oft nach dem Mund reden, wie Hersh ihnen in seiner 2018 veröffentlichten Autobiographie attestiert. Und als so idealistischer wie eitler Chronist gefällt sich Hersh in dieser Rolle als journalistische Koryphäe, als „Scoop Artist“ (zu Deutsch etwa: Sensationsmeldungskünstler), wie ihn vor 50 Jahren eine Kollegin taufte.

Der Spitzname haftet ihm bis heute an. Und das zu Recht: Kein anderer amerikanischer Journalist hat mehr ‚Scoops‘, also exklusive Sensationsmeldungen, zu Tage befördert als Hersh. Er und Watergate-Enthüller Bob Woodward – die beiden verbindet bis heute eine freundschaftliche Rivalität – sorgten in den späten 60er- und frühen 70er-Jahren im Alleingang dafür, dass eine völlig neue Berufsbezeichnung in die Branche einkehrte: die des „Investigativjournalisten“. Auch wenn sich der langjährige Herausgeber der „New York Times“, Arthur Sulzberger, noch so sehr dagegen wehrte, seiner Belegschaft einbläute, dass alle Journalisten ‚investigative‘ Reporter seien, „was auch immer das überhaupt heißen soll“: Der Begriff hat seitdem eine unaufhaltsame Karriere gemacht.

Allerdings – und damit zurück zu Hershs Auftritt bei der Nachrichtensendung „Nightline“ in den 80ern: Seit Anbeginn seiner Karriere begleiten Hershs Arbeit auch laute Kritiker. Darunter sind solche, die ihm eine linksliberale Anti-Kriegs-Agenda vorwerfen, ihn Kommunist und Anti-Patriot nennen, weil er über Kriegsverbrechen der Amerikaner berichtet hat. Etwa über das My-Lai-Massaker, dessen Aufdeckung 1969 Hershs journalistischer Durchbruch war, oder – 35 Jahre später – über sadistische Folter durch US-Soldaten in Abu Ghraib. Auch viele, die sich selbst als Opfer der Berichterstattung von Hersh wähnen, sind unter den Kritikern des Reporters. All das aber kann Hershs journalistische Reputation nicht schädigen – für einen wie ihn mag es gar eine Auszeichnung sein. „Ich habe eine Menge Blutfeinde“, sagte er dazu einmal selbst. Harte Geschichten wie seine produzierten eben „eine Menge Wut“.

Es gibt aber auch ernstzunehmendere Kritik an Hershs Arbeitsweise. Sein Biograph Robert Miraldi nennt diese das „alte Schreckgespenst“ in Hershs Laufbahn. Denn seit jeher stützen sich seine „Scoops“ nahezu ausschließlich auf nicht identifizierte Hinweisgeber. Hersh ist berüchtigt dafür, jederzeit und für jedermann telefonisch erreichbar zu sein. Und er hat Quellen bis in höchste Militär- und Regierungskreise. Über seine Zeit bei der „New York Times“ erzählt man sich die Geschichte, Vorgesetzte hätten seine Telefonleitung kappen müssen, wenn sie mit ihm reden wollten.

Als er Anfang der 1970er-Jahre zur „New York Times“ kam, galten anonyme Hinweisgeber dort noch als verpönt – umso mehr, wenn sie Anschuldigungen mit potenziell juristischem Gewicht vorbrachten. „Unsere Glaubwürdigkeit ist zu wichtig, um das zu riskieren“, hatte Herausgeber Rosenthal ihm anfangs mitgeteilt. Und wenn schon anonym, dann sollten es bitte wenigstens zwei unabhängige Quellen sein. Später, als Hersh einen Watergate-Scoop nach dem anderen hervorbrachte, weichte Rosenthal diese Linie auf – Hersh aber war es ohnehin egal gewesen, was Vorgesetzte von ihm verlangten. Nicht zuletzt waren es Insiderinformationen aus dem Weißen Haus, die ihm seine Quellen lieferten. Dass sich noch aktive Funktionsträger nur anonym äußern wollten, war mehr als nachvollziehbar. Dasselbe galt für ehemalige und aktuelle Mitglieder des Militärs, die Hersh über Jahrzehnte hinweg immer wieder mit Infos fütterten.

Dennoch: Die Diskussion um Hershs schier unermüdlichen Schatz an anonymen Hinweisgebern, die seine Karriere bis heute begleitet, lässt sich in einer zentralen Frage zusammenfassen: Wie glaubwürdig können anonyme Quellen wirklich sein? Und in diesen Tagen, anlässlich des vermeintlichen Enthüllungsberichts, den Hersh am Dienstag veröffentlichte, lässt sich diese Frage noch einmal entscheidend variieren: Wie glaubwürdig kann eine einzige anonyme Quelle wirklich sein?

Eines ist auch diesmal wie immer, wenn Hersh einen seiner ‚Scoops‘ publik macht: An Zündstoff mangelt es wahrlich nicht. „How America Took Out The Nord Stream Pipeline“ (zu Deutsch etwa: Wie Amerika die Nord Stream-Pipeline beseitigte) heißt das Exposé, das Hersh am Dienstag auf der Blog-Plattform Substack veröffentlichte. „Die New York Times nannte es ein ‚Mysterium‘, aber die Vereinigte Staaten haben eine verdeckte Seeoperation ausgeführt, die geheim gehalten wurde – bis jetzt“, steht darunter.

Der Inhalt des Exposés lautet so: US-Marinetaucher hätten unter dem Deckmantel einer Nato-Übung im Juni 2022 heimlich einen fernzündbaren Sprengstoff an einer der Röhren der Nord-Stream-Pipeline angebracht und ihn zwei Monate später – auf Befehl von US-Präsident Joe Biden – ausgelöst. Das klingt spektakulär – und dürfte, wenn es sich bewahrheitete, erheblichen Einfluss auf die weltpolitische Lage haben. Umso ernüchternder ist vor diesem Hintergrund Hershs Quellenangabe: Er habe mit „einer Quelle mit direkter Kenntnis der Planungen der Operation“ gesprochen, heißt es da lediglich. Das ist selbst für jemanden wie Hersh, der für seine anonymen Hinweisgeber berüchtigt ist, reichlich dünn.

Angesichts der fraglichen Quellenlage verwundert es wenig, dass sein Exposé nicht bei einem renommierten Medium veröffentlicht wurde, sondern er eigens dafür einen eigenen Blog ins Leben rief. „Hier habe ich endlich die Freiheit, für die ich immer gekämpft habe“, begründet Hersh selbst diesen Schritt. Bei renommierten Medien habe er sich „nie zu Hause gefühlt“. Und dort sei er heutzutage auch „nicht mehr Willkommen“.

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In einem begleitenden Blogeintrag beschreibt der Journalist seine Veröffentlichung als „die Wahrheit, an der ich drei Monate lang gearbeitet habe, ganz ohne Druck eines Herausgebers, Redakteurs oder Kollegen, sie einer gewissen Denklinie anzupassen oder sie abzuschwächen“.

Es ist der typische Hersh-Stil, ein Unterverkaufen der eigenen Enthüllungsarbeit war nie Teil seines Repertoires. Es klingt aber auch ganz so, als hätte der Pulitzer-Preisträger zuvor versucht, seine Geschichte bei einem renommierten Medium unterzubringen. Wie auch schon zwischen 2013 und 2015, als das britischen Nischenmagazin „London Review of Books“ drei zweifelhafte Enthüllungsgeschichten über Syrien abdruckte, die zuvor der „New Yorker“ und die „Washington Post“ abgelehnt hatten.

In einer davon warf Hersh Barack Obama vor, bei seiner Darstellung der Tötung Osama bin Ladens gelogen zu haben. Die Geschichte stützte sich auf Schilderungen nicht namentlich genannter ehemaligen Berater und eines anonymen ehemaligen Geheimdienstmitarbeiters. Ein Kollege bezeichnete Hershs Ausführungen seinerzeit als „alarmierende – und widersprüchliche – Anschuldigungen, die auf wenig bis gar keinen Belegen abseits einer Handvoll anonymer ‚Offizieller‘ fußen“.

Wenn es diesmal doch bloß auch eine Handvoll gewesen wäre, mag man mit Blick auf Hershs jüngste Recherche seufzen.

Lesen Sie hier: Haben wirklich die USA die Nord-Stream-Pipelines gesprengt?

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