Energiekonzept Erneuerbare Energien im Realitätscheck

Ab 2050 soll sich Deutschland zu 80 Prozent mit Ökostrom versorgen. Kann der neue Plan der Bundesregierung funktionieren und welche Folgen hat das Energiekonzept?

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Sigmar Gabriel (SPD) sieht Quelle: dpa

Es geht hoch her vor dem Infozentrum des Örtchens Morbach auf den Höhen des Hunsrücks. Busse kommen neben dem einstöckigen, gelb-terrakotta-farbenen Gebäude zum Stehen und laden Schulklassen und Touristen ab. Weit mehr als 20 000 Besucher haben sich schon angesehen, wie sich die 11 000-Seelen-Gemeinde bei Trier weitgehend autark mit Strom und Wärme versorgt. „Sogar Amerikaner, Australier und Japaner interessieren sich dafür“, staunt Michael Grehl, der Energiebeauftragte der Kommune.

Sie bekommen viel zu sehen. 14 Windräder drehen sich auf einem ehemaligen Munitionsdepot der US-Armee am Rande des kleinen Ortes. Solarmodule so groß wie ein Fußballfeld fangen Sonnenlicht ein. Und ein Biogaskraftwerk verwandelt rund um die Uhr landwirtschaftliche Abfälle in Strom. Mit dieser Ausstattung produzieren die Morbacher drei Mal so viel Elektrizität, wie sie brauchen – 50 Millionen Kilowattstunden (kWh) pro Jahr. Und bald sollen es noch mehr sein.

Ist Merkels „Energie-Revolution“ realistisch?

Eine weitere Fotovoltaikanlage befindet sich im Bau, und ein zweiter Windpark ist geplant. Sind diese Anlagen am Netz, will die Gemeinde auch sämtliche Betriebe mit selbst produziertem Ökostrom beliefern. Dann wäre die Energie-Autarkie perfekt.

Umweltaktivisten stilisieren Gemeinden wie Morbach zum Vorbild. Schon bald, so hoffen sie, werde sich ganz Deutschland aus regenerativen Quellen mit Strom versorgen können. Doch längst sind es nicht mehr nur grüne Träumer, die solche Ansätze interessiert verfolgen. Auch Unternehmen wie der Technologiekonzern Siemens, der Handels- und Touristikriese Rewe und sogar Atomstromanbieter E.On rechnen damit, dass unser Strom künftig weitgehend aus grünen Quellen stammen könnte.

Dem schließt sich nun auch die Bundesregierung an: 80 Prozent, so das im neuen Energiekonzept formulierte Ziel, sollen Sonne, Wind und Biomasse im Jahr 2050 zur Stromversorgung beitragen. Das wäre ein Riesenschritt. Denn zurzeit liegt der Anteil der Erneuerbaren noch bei 16 Prozent.

Die zugleich beschlossene Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke soll diese grüne Stromzukunft nicht aufhalten, sondern den Übergang stabiler machen. Denn schon in zehn Jahren soll der Ökostrom in Deutschland seinen Anteil am Strommix auf 35 Prozent verdoppeln.

Was bei all den Zahlen oft übersehen wird: Eine Umstellung auf eine überwiegend grüne Stromversorgung würde einen totalen Umbau der Energielandschaft bedeuten – von der Leitungstechnik bis zu neuen Stromzählern für Konsumenten.

Was also bedeutet Merkels „Energie-Revolution“ wirklich? Ist sie eine realistische Perspektive? Oder entspringt sie grünen Träumen? Und angenommen, es wäre machbar: Welchen Preis hätte das Land dafür zu zahlen, wenn große Teile der Republik mit Windrädern oder Fotovoltaikspiegeln vollgestellt würden?

Auf jeden Fall würde eine Branche auf den Kopf gestellt, die Lebensgrundlage für die Industrie und Garant für Deutschlands Leistungsfähigkeit ist.

Am Ende billiger

Wie eine 100-prozentige Grünstromversorgung im Detail funktionieren könnte, zeigen zwei aktuelle Gutachten. Das eine stammt vom Fraunhofer-Institut für Windenergie und Energiesystemtechnik, das andere vom Sachverständigenrat für Umweltfragen. Die Gutachten machen allerdings auch klar, dass für einige grüne Energietechniken noch erheblicher Forschungsbedarf besteht.

Mit den Windrädern an Land und nahe der Küsten haben lediglich zwei der wichtigsten Erzeugungsquellen der grünen Zukunft ihre Praxistauglichkeit bereits bewiesen.

Und so warnt etwa BASF-Chef, Jürgen Hambrecht, bei einer grünen Vollversorgung drohe eine Deindustrialisierung Deutschlands. Grüne Energie treibe die Kosten in die Höhe: Allein in der chemischen Industrie belaste jeder zusätzliche Cent bei Strompreisen die Energierechnung mit rund einer Milliarde Euro, sagt er. „Eine falsche Energiepolitik wirkt sich negativ auf Investitionen und Arbeitsplätze in Deutschland aus.“

Bezahlbar und klimaverträglich

Das Risiko kann niemandem egal sein. Bezahlbarer Strom ist entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft. Schon heute machen Energiekosten etwa bei der Zementherstellung fast 20 Prozent am Bruttoproduktionswert aus. Bei Chemikalien sind es mehr als zehn, bei Stahl rund neun Prozent. Und in Deutschland schmerzt jede Preiserhöhung doppelt. Längst müssen Industriebetriebe mehr für Strom bezahlen als ihre Wettbewerber in anderen Ländern, wie die Internationalen Energieagentur kürzlich feststellte.

Alles halb so wild, hält Martin Faulstich dagegen. So dramatisch werde der Preisanstieg durch die grüne Rundumversorgung nicht. Der Experte für Rohstoff- und Energietechnologie der Technischen Universität München ist Vorsitzender des Umweltrats, dem Pendant zu den Wirtschaftsweisen. Faulstich und seine Kollegen halten die Energiewende für „sicher, bezahlbar und klimaverträglich“.

Die Ökoweisen haben ausgerechnet, dass eine rein nationale Elektrizitätsversorgung aus grünen Quellen die Erzeugungskosten im Jahr 2050 im günstigsten Fall um zwei Cent pro Kilowattstunde erhöhen würde. In der Übergangsphase sind es allerdings zeitweise bis zu sieben Cent. Zugleich aber würden auch die fossilen Energieträger teurer, so die Sachverständigen, weil die Preise für Uran, Kohle und Gas steigen. Die Folge: In einigen Jahren werden sich die Preise grüner Energie und die fossiler Kraftwerke treffen (siehe Grafik).

Zugleich werden die Ausgaben für Energie in Deutschland ohnehin sinken, weil der Verbrauch durch Gebäudedämmung und effizientere Maschinen sinkt. Schon jetzt könnte die Industrie mit geringen Investitionen kurzfristig 25 Prozent ihres Energieverbrauchs sparen, errechneten die Berater von Roland Berger.

So zerstritten die Lager auf der einen Seite sind, so sehr ist den meisten klar, dass der Wandel stattfinden muss. Nicht nur wegen steigender Rohstoffpreise, auch weil der Klimaschutz die Industrie mit enormen Abgaben belasten wird.

Teurer Einstieg

Die Umstellung auf eine erneuerbare Energieversorgung sei daher „die zentrale Aufgabe dieses Jahrhunderts“, sagt Frank Mastiaux, der die grüne Sparte Climate & Renewables von Deutschlands größtem Energiekonzern E.On führt. „Sie ist nur vergleichbar mit der Industrialisierung zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts“.

Tatsächlich gewinnt der Wandel bereits an Fahrt: 60 Prozent der 2009 in Europa installierten Kraftwerkskapazitäten nutzen Biomasse, Sonne und vor allem Wind. Nahezu unbemerkt haben sich die Investitionen der Versorger verschoben, so eine Studie der Berater von Steria Mummert: Wollten vor fünf Jahren 34 Prozent ihr Geld in die grüne Erzeugung stecken, planen dies in den nächsten zwei Jahren 75 Prozent.

Der Wandel spiegelt sich auch im Portfolio der Energiekonzerne wider. E.On will in den nächsten fünf Jahren zehn Gigawatt (GW) Grünstrom-Kapazitäten aufbauen. Das entspricht der Leistung von zehn großen Kohlekraftwerken. Konkurrent RWE hat Ökoprojekte mit 17 GW Leistung in der Pipeline. Mitverantwortlich für den Schwenk sind auch die Milliardensummen, mit denen der Staat die Investitionen in Kraftwerke für Wind- und Sonnenstrom unterstützt.

Riskante Träume

Zugleich aber zeichnen sich die ersten Probleme des grünen Schwenks ab: Es drohen Engpässe, und so mancher grüne Traum könnte dadurch zerplatzen.

Längst nämlich hat ein internationaler Wettlauf um den Ausbau von Grünstrom begonnen, ganz besonders beim Wind. 100 GW Windkraft will laut der Unternehmensberatung Ernst & Young alleine China bis 2020 errichten. Aber auch Amerikaner, Dänen, Holländer und Briten planen Hunderte neue Windparks.

„Es gibt jedoch bei Weitem nicht genügend finanzstarke Unternehmen, die die vielen geplanten Projekte stemmen könnten“, warnt E.On-Vorstand Mastiaux. Zum Zug kämen die Länder, die geeignete Häfen und Logistikstrukturen anbieten.

Deutschland ist dabei keineswegs Wunschkandidat. Weil die geplanten Windparks weit vor der Küste liegen müssen, um Möwen, Seehunde und Touristen zu schonen, sind sie besonders teuer.  Zudem hat mit solchen Tiefseeanlagen bislang kaum ein Unternehmen Erfahrungen gesammelt. Und mit bis zu 14 Cent Erzeugungskosten je Kilowattstunde ist der Meeresstrom mehr als doppelt so teuer wie Kohlestrom.

Nicht zufällig stellt die Bundesregierung in ihrem Energiekonzept fünf Milliarden Euro Kredite der staatseigenen KfW Bank für den Bau der ersten zehn Offshore-Parks in Aussicht. Dennoch werden viele deutsche Meeresstromprojekte wohl erst wesentlich später realisiert als geplant – wenn überhaupt.

Damit würde der wichtigste Grundpfeiler der grünen Energiewende wackeln: In den Szenarien des Fraunhofer-Instituts sollen die maritimen Großkraftwerke 2050 ein Drittel des jährlichen Strombedarfs decken (siehe Grafik).

Protest gegen Stromleitungen in Thüringen Quelle: dpa

Das ist nur eine von vielen Unwägbarkeiten im schönen Plan einer 100-prozentigen Ökostrom-Welt. Um die riesigen Windmengen von der Nordseeküste zu den Stahlwerken in den Westen und den Autoherstellern in den Süden zu transportieren, ist ein massiver Netzausbau notwendig. Doch von 1000 Kilometern geplanten Leitungen sind nicht einmal ein Zehntel verlegt. Wo immer Hochspannungsmasten aufgestellt werden sollen, marschieren die Bürger zu Demonstrationen auf. Würden die Trassen aber als Erdkabel verlegt, verteuerte sich der Ausbau um das Vierfache. Experten schätzen die Kosten jetzt schon auf 20 Milliarden Euro in den nächsten zehn Jahren.

Das Netz ist nicht die einzige Baustelle. Weil Wind und Sonne unsichere Kantonisten sind und mitunter Tage ausbleiben, müssen Speicher genügend Reserveenergie bereithalten, damit die Lichter nicht ausgehen. Die Ausbaumöglichkeiten für Pumpspeicher, in denen Wasser in Stauseen gepumpt und bei Bedarf wieder abgelassen wird, stoßen an Grenzen.

Proteste gegen Ausbau

Andere Speichertechniken wiederum, bei denen Luft in die Erde gepresst und bei Bedarf wieder freigelassen wird, vernichten etwa die Hälfte der gelagerten Energie. Einigermaßen neu in der Diskussion sind Speicher, die mit Wasserstoff oder Methan gefüllt werden. Das Gas wird mit überschüssigem Strom gewonnen. Besteht später Bedarf, wird das Gas in einem Kraftwerk verfeuert.

Diese Speichertechniken haben von allen Bausteinen der grünen Energiezukunft den größten Entwicklungsbedarf. Das macht sie nahezu unkalkulierbar. Erst wenn sie massenhaft einsetzbar sind, kann ein Land wie Deutschland auf traditionelle Gas- und Kohlekraftwerke als Ersatz verzichten.

Das gilt auch dann, wenn die Netze eigenständig Lastspitzen abfedern können. Wenn sie also die Stromnachfrage autonom entsprechend dem Angebot steuern können, etwa indem Waschmaschinen, Trockner und Kühlhäuser dann anspringen, wenn Elektrizität in Mas-sen verfügbar ist. Noch existiert die Idee nur auf dem Papier. Voraussetzung dafür ist, dass intelligente Zähler in den Kellern aller Verbraucher eingebaut werden.

Bis 2015, so hatte es die Bundesregierung eigentlich festgeschrieben, soll in jedem zweiten Haushalt ein solcher Zähler installiert sein. Doch der Energieexperte Stephan Haller von der Managementberatung Horváth & Partners glaubt nach einer Befragung von Energiemanagern nicht, dass dieses Ziel erreichbar ist. „Das Problem ist, dass die Technik für Zähler und Datenübertragung noch nicht marktreif ist“, sagt er. Genauso wenig kommt die Einführung variabler Tarife voran. Sie sollen die Stromnachfrage eines Tages entsprechend des Angebots steuern. Doch erst jeder zweite Versorger hat laut Haller entsprechende Tarife im Programm. Und das, obwohl sie laut Regierungsvorgaben bis Ende des Jahres flächendeckend verfügbar sein sollten.

Ein Solarpark in der Wüste. Quelle: AP

Derlei Verzögerungen wären weniger dramatisch, würden sich die Grünstrom-Apologeten nicht allzu sehr auf die vollständige Energie-Autarkie konzentrieren: eine 100-prozentige Versorgung mit Wind, Sonne und Biomasse aus Anlagen in Deutschland. Die wäre, da sind sich viele Experten einig, höchst unwirtschaftlich.

Die Alternative ist ein europäischer Ökostromverbund, „in dem die grünen Kraftwerke dort stehen, wo sie den höchsten Ertrag bringen“, sagt Bernd Utz, von Siemens Energy und Verantwortlicher für das Wüstenstromprojekt Desertec. „Der richtige Standort hilft der Wirtschaftlichkeit der Erneuerbaren auf die Sprünge“, sagt Utz. Stephan Kohler geht noch einen Schritt weiter. Der Chef der halbstaatlichen Deutschen Energie-Agentur (Dena) in Berlin sagt: „Allein wird Deutschland die Energiewende nicht schaffen.“

Aber warum sollte dies auch das Ziel sein? Schon seit Jahrzehnten ist das Land von Energieimporten abhängig.

Notwendige Summen erinnern an Mondmission

In der großen grünen Lösung würden eine Kette von Meeres-Windparks von Irland bis Dänemark und leistungsstarke Solarkraftwerke im Wüstengürtel Nordafrikas, wie sie Desertec plant, Europa mit Strom beliefern.

Und Dena-Chef Kohler hat noch eine grüne Energiequelle entdeckt: Biogas aus der Ukraine. In den riesigen Weiten des dünn besiedelten Flächenstaats, so Überlegungen von Stromexperten, könnten im großen Stil Energiepflanzen wie Raps angebaut werden. Sie würden mit Holzabfällen aus den Wäldern und Gülle aus den Ställen zu Biogas verarbeitet und später in deutschen Kraftwerken verfeuert. Transportiert wird es durch die vorhandenen Erdgasleitungen.

Was ein internationaler Stromverbund am Ende kosten würde, hat allerdings noch niemand durchgerechnet. Sicher ist: Mit 400 Milliarden Euro allein für das Wüstenstromprojekt Desertec erreichen die notwendigen Summen Dimensionen, die an die Mondmissionen der Amerikaner erinnern.

So bietet sich als pragmatischer Ansatz zur grünen Totalrenovierung des Strommarkts der Weg an, den die Stadtwerke München eingeschlagen haben. Der kommunale Energieversorger hat angekündigt, spätestens im Jahr 2025 alle Haushalte und Unternehmen der Millionenmetropole mit Watt und Volt aus sauberen Quellen zu versorgen. Nur ein kleiner Teil des Ökostroms wird dann allerdings aus örtlichen Anlagen stammen. Den überwiegenden Teil produzieren die Stadtwerker viele Hundert Kilometer entfernt: in Meereswindparks vor Sylt und vor der walisischen Küste, mit Mühlen im Havelland und mit einem Solarthermie-Großkraftwerk in Andalusien.

E.On-Manager Mastiaux zieht aus den vielen Unsicherheiten vor allem einen Schluss: Es führt nicht weiter, für den Systemwechsel ein festes Datum zu setzen, egal, was der Umbau der Stromversorgung kostet. Seine Prognose: „Das wird ein Umstieg in vielen Schritten.“

Der grüne Wandel findet statt. Das Problem ist, dass er wesentlich länger braucht, als es die Vordenker gerne hätten.

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