Mehr Kohlestrom als Ökoenergie „Das ist ein Alarmsignal“

Unsichere Zukunft für den CO2-Emittenten Kohlekraftwerk. Quelle: dpa

Im ersten Halbjahr dieses Jahres wurde mehr Strom durch Kohle als durch die Erneuerbaren produziert. Bremst die Energiewende sich selbst aus? Philipp Litz, Projektleiter bei Agora Energiewende, über Ursachen, Folgen – und politische Schlüsse.

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WirtschaftsWoche: Herr Litz, Kohle hat als Energieträger für die Stromproduktion im ersten Halbjahr 2021 die Windkraft vom ersten Platz verdrängt. Bekommt Deutschland die Energiewende nicht hin?
Philipp Litz: Das ist ein Alarmzeichen, denn es zeigt, dass der Ausbau der Erneuerbaren Energien in Deutschland zu langsam voranschreitet. In den letzten zwei bis drei Jahren sind schlicht zu wenig Windkraftanlagen an Land gebaut worden. Ein Halbjahr mit weniger Stürmen und Starkwind wie dieses reduziert die Energieernte jeder einzelnen Windkraftanlage – das schlägt dann voll durch.

Brauchen wir nicht einfach mehr konventionelle Kraftwerke, die solche Missernten auffangen?
Wir wissen, dass es Jahre mit mehr und mit weniger Wind gibt. Die Volatilität liegt in der Natur der Windkraft. Aber damit müssen wir umgehen. Und das können wir auch. Wenn Deutschland mehr Erneuerbare Energien zur Verfügung hätte, dann würden wir die Schwankungen problemlos auffangen.

Vorausgesetzt, es gibt keine Dunkelflaute, also ein Szenario ohne Wind und mit wenig Sonneneinstrahlung. Wie wahrscheinlich ist die Gefahr eines Blackouts?
Da mache ich mir keine Sorgen. Es gibt ein sehr enges Monitoring der Bundesnetzagentur, das die Reservekapazitäten im Blick hat. Wir haben ausreichend Kapazitäten, auch nach dem Atomausstieg im kommenden Jahr. Im Notfall könnte Deutschland zusätzliche Energie aus dem Ausland importieren. Nichtsdestotrotz ist der Ausbau der Wind- und Solarenergie hierzulande entscheidend, um günstigen Strom vor Ort zu produzieren.

Dann rettet polnischer Kohlestrom oder französischer Atomstrom Deutschland vor einem Blackout, weil die Erneuerbaren Energien unzuverlässig sind?
Die internationale Vernetzung der Stromleitungen ist Kern des europäischen Strommarktes. Und es ist ja nicht so, dass die anderen Länder ihren Energiemix unverändert lassen. Europa hat sich zu Klimaneutralität bis 2050 verpflichtet. Das gilt für jedes einzelne EU-Land.

Aber die Geschwindigkeit der Energietransformation ist vielen Menschen zu hoch. Die Grünen fordern einen Ausstieg aus der Kohleverstromung bis 2030 – acht Jahre früher als derzeit geplant. Würde das Land sich und seine Industrien nicht überfordern?
Der Kohleausstieg bis 2030 ist möglich und sogar geboten. Denn nur mit dem vorgezogenen Kohleausstieg erreicht Deutschland auch seine Klimaziele. Zugleich müssen Windkraft- und Solaranlagen massiv ausgebaut werden: Bis 2030 müssen 70 Prozent des Stroms aus Erneuerbaren Energien stammen. Die Industrie fordert selbst prominent den Ausbau der Erneuerbaren Energien, weil die Unternehmen von günstigem, grünem Strom abhängig sind. Das Ziel Klimaneutralität bis 2045 erfordert eine Verdopplung bis Verdreifachung beim Ausbau von Wind an Land und auf See sowie Photovoltaikanlagen. Zudem brauchen wir kurzfristige und langfristige Speicher.

Was schlagen Sie vor?
Wir sind derzeit nicht auf dem Pfad, um die Klimaziele zu erreichen. Wir müssen die Ausbaumengen im Erneuerbaren-Energien-Gesetz verdoppeln. Gleichzeitig brauchen wir zwei Prozent der Flächen für Windkraft an Land. Für das erforderliche Tempo müssen auch Genehmigungsverfahren schneller werden – derzeit braucht die Genehmigung für ein Windprojekt bis zu fünf Jahre.

Und woher kommen die Speicher?
Beispielsweise können Gaskraftwerke in Zukunft mit grünem Wasserstoff betrieben werden und so als Backup-Kraftwerke dienen, wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint. Die Umrüstung der konventionellen Gaskraftwerke ist technisch und wirtschaftlich möglich. Diese Wasserstoffkraftwerke wären damit eine Zwischenlösung aus einem Speicher und einem Reservekraftwerk. Es speichert zunächst Erneuerbare Energie in Form grünen Wasserstoffs und springt dann an, wenn Strom benötigt wird.

Der Umbau der Gaskraftwerke kostet viel Geld – wie auch die gesamte Transformation. Wie teuer wird es?
Der Staat müsste ab kommendem Jahr rund 30 Milliarden Euro jährlich über den Bundeshaushalt finanzieren, damit Deutschland seine Klimaziele erreichen kann.

Strom ist derzeit schon so teuer wie nie. Zahlen die Unternehmen und Verbraucher die Kosten für die Energiewende?
Es besteht inzwischen breiter Konsens darüber, dass der Strompreis sinken muss, damit grüne Alternativen wie das Elektroauto und die Wärmepumpe zum günstigen Standard werden. Aber natürlich gibt es die Klimawende nicht zum Nulltarif. Mit steigendem CO2-Preis werden klimaschädliche Energieträger wie Benzin, Öl und Gas teurer. Ganz sicher ist, dass Nichtstun teurer wäre als der klimaneutrale Umbau der Volkswirtschaft. Allein die Flutschäden in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen kosten Bund und Länder 30 Milliarden Euro – so viel wie der Staat jedes Jahr zusätzlich in Klimaschutz investieren sollte.

Flutwellen wird es auch in Zukunft geben. Außerdem schlagen andere Länder einen weniger grünen Pfad ein. Am Ende zahlt Deutschland für die Transformation, aber dem Klima ist nicht geholfen?
Europa, China und die USA haben sich zur Klimaneutralität verpflichtet, andere Länder ebenfalls. Die Regierungen weltweit haben verstanden, dass die CO2-Emissionen heruntergefahren werden müssen. Der Wettlauf zu Null Emissionen hat begonnen und wird darüber entscheiden, wer Technologieführer bei der Klimaneutralität wird.

Allein die Chemiebranche benötigt für die Klimaneutralität 2045 so viel Strom aus Erneuerbaren Energien wie Deutschland heute insgesamt inklusive der konventionellen Energie produziert. Woher soll der ganze Ökostrom kommen?
Ich kenne die Prognosen der Chemiebranche. Wir glauben, dass die Transformation der Chemiebranche mit weniger Stromverbrauch möglich ist. Wie auch immer: In unseren Prognosen gehen wir davon aus, dass 80 Prozent der benötigten Energie aus Deutschland kommen wird. Den Rest importieren wir – etwa grünen Wasserstoff aus anderen Ländern.

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Das heißt, eine autarke Energieversorgung Deutschlands ist nicht möglich? 
Dafür haben wir in Deutschland nicht genügend Fläche etwa für Windkraft. Aber wir brauchen auch nicht so viele Erneuerbare Energien, denn wir sind Teil des europäischen Strommarktes. Ohnehin ist die Abhängigkeit Deutschlands von Energieimporten heute hoch: Wir importieren Gas etwa aus Russland und Öl aus den arabischen Ländern. Die deutsche Energieabhängigkeit vom Ausland wird in Zukunft durch die Transformation zur Klimaneutralität deutlich abnehmen.

Mehr zum Thema: Um neue Klimaziele zu erfüllen, braucht das Land viel mehr grüne Energie. Doch Bürokratie und Proteste blockieren den Ausbau. Strom wird zum Luxusgut – und der Industrie droht der Blackout

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