Gesundheitsservice statt Zigaretten Philip Morris bekämpft, was es selbst verursacht

Marlboro-Zigaretten – eine Marke von Philip Morris. Quelle: AP

Der Tabakkonzern Philip Morris soll sich radikal wandeln. Doch die geplante Übernahme eines Lungenspezialisten halten Kritiker für verlogen – London könnte eingreifen.

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Wenn Moira Gilchrist auf den möglicherweise fragwürdigsten Deal des Jahres angesprochen wird, dann wirkt die Pharmakologin so, als könne sie die ganze Aufregung gar nicht verstehen. Ihr Arbeitgeber, der Tabakkonzern Philip Morris International (PMI), will einen Spezialisten für Lungenkrankheiten übernehmen.

In wenigen Tagen sollen die Aktionäre von Vectura über die Offerte entscheiden. „Offensichtlich verstehen wir viel von Inhalation“, rechtfertigt Gilchrist die Kaufpläne, „also haben wir uns auf die Suche nach Unternehmen gemacht, die von dem Wissen und Know-how, das wir entwickelt haben, wirklich profitieren können.“ Vectura habe man „schon lange“ gekannt. Als sich die Option ergab, „dachten wir: Das passt strategisch sehr gut zu uns, um voranzuschreiten“.

Voranschreiten im Sinne der Sache, bedeutet bei PMI so viel wie strategisches Neuland betreten: weg vom Tabak, rein in den Gesundheitsmarkt. Kritiker halten das für verlogen – und wittern andere Motive dahinter: Kunden zunächst krank machen, um danach bei der Heilung abzukassieren. PMI steht jedenfalls am Pranger – und unter politischer Beobachtung: Die Regierung in London hält sich offenbar vor, den Deal zu verbieten.



PMI macht bis heute rund 70 Prozent seines Umsatzes mit dem Verkauf von Zigaretten, zu den Marken zählen etwa Marlboro, L&M und Chesterfield. Bis 2025 wolle PMI die Hälfte der Umsatzes durch „rauchfreie“ Produkte erzielen, heißt es bei dem US-schweizerischen Konzern, also etwa E-Zigaretten und der Tabakerhitzer Iqos, dessen Ausdünstungen weniger schädlich sein sollen. Langfristig wolle PMI ein Experte für „Gesundheit und Wellness“ werden.

Erste Weichen sind gestellt. So übernahm PMI im Juli dieses Jahres Fertin Pharma, einen dänischen Entwickler medizinischer Kaugummis. Im August verleibte sich PMI noch OtiTopic ein. Das US-Biotechunternehmen arbeitet derzeit an einem Inhalationsmedikament, das bei Herzinfarkten zum Einsatz kommen soll.

Die geplante Übernahme von Vectura für rund eine Milliarde Pfund löst mehr Emotionen aus. Schließlich hat sich das 1997 gegründete Unternehmen in Südwestengland, das heute mehr als 450 Mitarbeiter beschäftigt, auf die Behandlung von Atemwegserkrankungen spezialisiert – wie sie beispielsweise durch das Rauchen entstehen. PMI überbot eine Offerte der Private-Equity-Firma Carlyle. Der Aufsichtsrat von Vectura empfahl den höheren Preis von PMI. Aktionäre haben bis Mitte September Zeit, die Offerte anzunehmen.



PMI-Managerin Gilchrist versichert, Vectura solle eigenständig bleiben. Man wolle neue Produkte entwickeln, „die über Nikotin hinausgehen“. Und etwa in den Bereich Wellness vorstoßen. Eine 180-Grad-Wende und die sofortige Einstellung der Zigarettenproduktion komme aber nicht in Frage: „Die Aktionäre würden rebellieren, das Management entlassen und Leute einsetzen, die ihre Renditen weiter wie bisher weiter auszahlen würden.“ Die gegenwärtige Strategie sei bewusst so ausgewählt, damit es dem Konzern gelingen könne, „vollständig vom Zigarettenverkauf wegzukommen“.

Alte Rechnungen begleichen

Der öffentliche Druck ist aber so groß, dass Philip Morris-CEO Jacek Olczak sich kürzlich genötigt fühlte, in einem Gastbeitrag im konservativen „Daily Telegraph“ Stellung zu beziehen. Seine Kritiker seien nicht am „Fortschritt“ interessiert, sondern wollten alte Rechnungen begleichen, wütete Olczak. „Es ist rätselhaft, dass diejenigen, die uns auffordern, den Verkauf von Zigaretten einzustellen, uns dafür kritisieren, dass wir uns bemühen, den Verkauf von Zigaretten einzustellen. Wäre es ihnen lieber, wenn wir gar nichts täten?“

Ganz freiwillig kommt der Wandel nicht. Seit Mitte der 2000er-Jahre haben Regierungen weltweit die Auflagen gegen das Rauchen drastisch verschärft. Viele von ihnen folgen dem Rahmenübereinkommen der Weltgesundheitsorganisation WHO zur Eindämmung des Tabakgebrauchs, das 2005 in Kraft trat. Drastisch steigende Zigarettenpreise und abschreckende Bilder auf neutralen Verpackungen zeigen Wirkung. Die Zahl der Raucher in Ländern wie Deutschland sinkt.

Es gibt auch andere Gründe, an der angeblichen Läuterung des Konzerns zu zweifeln: 2017 hat die Nachrichtenagentur „Reuters“ anhand geleakter Dokumente und E-Mails nachgezeichnet, wie PMI jahrelang unter großem Einsatz versucht hat, die weltweiten Initiativen gegen das Rauchen auszubremsen.

Beim Vectura-Deal halten Kritiker daher andere Beweggründe für prioritär. „Philip Morris macht weiterhin rund drei Viertel seiner Gewinne mit traditionellem Tabak“, sagt Gail Hurley, Europadirektorin von Tobacco Free Portfolios, einer gemeinnützigen Organisation, die Finanzinstitute bei der Umsetzung tabakfreier Richtlinien unterstützt. Wenn ein Konzern, dessen Hauptprodukt schwere Atemwegserkrankungen verursache, nun eine Firma übernehmen würde, die Produkte zur Behandlung dieser Erkrankungen herstellt, dann wäre das so, als würden die ihre Wetten von allen Seiten absichern. „Wir haben sehr ernste ethische Bedenken“, sagt sie.

Hurley weist auch auf ein wirtschaftliches Risiko hin: „Befände sich Vectura im Besitz von PMI, könnte dies die Fähigkeit von Vectura beeinträchtigen, staatliche Zuschüsse zu erhalten. Das könnte sich auf die Forschung und Produktentwicklung auswirken.“ Viele Universitäten und Gesundheitseinrichtungen folgten ähnlichen Richtlinien des Nicht-Engagements mit der Tabakindustrie. Führende wissenschaftliche Publikationen wie „The Lancet“ oder das „British Medical Journal“ veröffentlichten grundsätzlich keine Studien von Tabakfirmen – mit möglichen Folgen auch für Vectura.

Man sei „sehr in Sorge“, erklärte auch die Europäische Respiratorische Gesellschaft (ERS) in einem Schreiben an Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng. Auch die Organisationen Asthma UK, die British Lung Foundation und Cancer Research UK schlugen Alarm und forderten die Regierung dazu auf, einzuschreiten.

Vectura selbst äußerst sich nicht. Ein Sprecher verweist auf die Erklärung, in der die Mitglieder des Aufsichtsrats den Anteilseignern empfohlen hätten, das Angebot von Philip Morris anzunehmen. Vectura könne von PMIs „beträchtlichen finanziellen Ressourcen“ profitieren, heißt es darin – etwa für Forschung und Entwicklung.

Die Politik ist irritiert. So erklärte Labour-Politiker und Schatten-Gesundheitsminister Jonathan Ashworth, die geplante Akquisition „eines wichtigen Akteurs von Lungengesundheitsprodukten durch Philip Morris“ sei „kaum zu fassen“. Es sei „bitter enttäuschend“, dass Vectura „die Sorgfaltspflicht gegenüber Patienten und Wissenschaftlern nicht wahrgenommen“ und das Kaufangebot nicht abgelehnt habe. Das Wirtschaftsministerium erklärt auf Nachfrage, es beobachte „die Situation weiterhin aufmerksam“.

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Eine andere Meldung passt auch nicht so recht zur neuen Strategie: So bemüht sich Philip Morris offenbar derzeit um eine Lizenz für die Produktion von Zigaretten in Ägypten. Und was sagt die Pharmakologin Gilchrist? Da dieses „begrenzte Ausschreibungsverfahren“ noch andauere, ziehe sie es vor, „nicht weiter zu kommentieren“.

Mehr zum Thema: Trotz milliardenschwerer Investitionen kommen die großen Tabakkonzerne nicht vom Rauchen los. Vor allem das E-Zigaretten-System Iqos von Philip Morris zündet in Deutschland noch nicht.

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