Zollexpertin warnt vor No-Deal-Brexit „Staus bis nach London“

Droht durch einen harten Brexit Stau-Chaos am Eurotunnel? (Archivbild) Quelle: imago images

London steuert auf einen harten Brexit zu. Doch wie gut ist der britische Zoll darauf vorbereitet? Die Zollexpertin Julia Pfeil erklärt, warum sie mit Lkw-Wartezeiten von bis zu drei Wochen rechnet und wie Unternehmen Lieferzeiten verkürzen können.

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Dr. Julia Pfeil ist Partnerin im Frankfurter Dentons Büro. Sie ist spezialisiert auf Öffentliches Wirtschaftsrecht, und zwar insbesondere auf die Bereiche Außenwirtschaftsrecht, Exportkontrolle, Sanktionen und Embargos.

Frau Pfeil, das Szenario eines harten Brexits, also dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU ohne Abkommen, wird immer wahrscheinlicher. Womit müssen deutsche Unternehmen rechnen, die auf Warenimporte oder -exporte aus Großbritannien angewiesen sind?
Pfeil: Die Wahrscheinlichkeit eines geordneten Brexits mit einem Austrittsvertrag ist tatsächlich verschwindend gering geworden. Der harte Brexit bedeutet dann das schlagartige Ende des freien Warenverkehrs innerhalb der Zollunion zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich. So wird es unmittelbar nach dem Austritt Englands zu einer Zollschranke kommen. Praktisch wird diese Zollschranke zwischen dem französischen Calais und dem englischen Dover entstehen. Der Aufwand an dieser Zollschranke ist nicht zu unterschätzen. Denn mit dem Ende der Zollunion müssen beide Seiten Zölle und Mehrwertsteuer auf die Produkte erheben. Ein gewichtiger Punkt sind zudem die an der Grenze entstehenden Verwaltungsverfahren, die bislang wegfielen.

Wie gut ist der englische Zoll auf diesen Aufwand vorbereitet? Oder anders gefragt: Wie lange werden die Lkw-Schlangen an der Grenze bei einem harten Brexit sein?
Mein Eindruck ist, dass der englische Zoll nicht genügend auf dieses Szenario vorbereitet ist. So hat der englische Zoll es etwa schon versäumt, die physischen Voraussetzungen für einen harten Brexit zu schaffen. Während in Calais umfangreiche Parkplätze angelegt wurden, damit die Lkw bei Kontrollen zumindest nicht die Straßen verstopfen, sind solche Vorbereitungen in England weitgehend unterblieben. Wenn die Lkw aber einfach auf der Straße stehen und dort alles verstopfen, kann das zu Staus führen, die nach verschiedenen Berichten von Calais bis nach London reichen können. Wartezeiten für Lkw von zwei bis drei Wochen sind im Fall eines harten Brexits ein realistisches Szenario. Verschärfend kommt hinzu, dass der britische Zoll gerade seine IT-Infrastruktur erneuert. Dieser Prozess ist aber wohl noch nicht abgeschlossen. Somit trifft der Brexit den britischen Zoll gleich doppelt. Denn die derzeitigen IT-Systeme sind derzeit gar nicht in der Lage, diese gewaltigen Massen an Lkw effizient abzufertigen.

Julia Pfeil. Quelle: PR

Ist es denkbar, dass der britische Zoll den Lkw-Verkehr einfach durchwinkt, um das absolute Chaos zu verhindern?
Es ist durchaus möglich, dass der britische Zoll das machen könnte. Aber das ist keine Abhilfe gegen das Chaos, denn die EU wird den Verkehr bestimmt nicht einfach so durchwinken. Die EU wird von ihren Einfuhr- und Ausfuhrformalitäten nicht abweichen. Das heißt, der britische Zoll könnte mit einem Durchwinken den Stau maximal auf einer Seite minimieren. Allerdings könnte Großbritannien nach WTO-Recht massive Probleme bekommen, wenn der britische Zoll tatsächlich so vorgehen würde. Denn die WTO-Regelungen sehen vor, dass eingeführte Waren gleichbehandelt werden müssen. Das heißt, wenn der britische Zoll Waren teilweise nicht kontrolliert, dürfte er dann nach WTO-Regelungen überhaupt nicht mehr kontrollieren.

Welche Aufgaben kommen durch den Brexit auf den deutschen Zoll zu?
Der deutsche Zoll wird durch den Brexit zwar nicht mehr Aufgaben erhalten, aber die bisherigen Aufgaben werden in der Masse ansteigen. Großbritannien ist ein enger Handelspartner von Deutschland. Wenn Großbritannien ohne Abkommen aus der EU ausscheidet, müssen alle Waren aus England so abgefertigt werden wie aus jedem anderen Drittland. Und das dauert eben.

Ist der deutsche Zoll ausreichend auf diese steigenden Volumina vorbereitet?
Das ist schwer zu beantworten. Zu bedenken ist, dass der deutsche Zoll bereits enorm viele Aufgaben hat, die er auch von anderen Behörden geerbt hat. Die eigentliche Frage wird aber sein, ob der Zoll genügend Personal für diese erhöhten Volumina hat. Denn man kann das Personal in der Abfertigung auch nicht von heute auf morgen erhöhen. Das sind höchst spezialisierte Vorgänge und die entsprechende Ausbildung beim Zoll braucht eben seine Zeit. Und auch Zollexperten aus Unternehmen lassen sich nicht so einfach abwerben. Insofern könnte das noch eine Herausforderung für den deutschen Zoll werden.

Welche Ratschläge geben Sie den Unternehmen, die Sie in Import- und Exportfragen zwischen Deutschland und England beraten? Wie können Unternehmen eilige Warenlieferungen bei diesen zu erwartenden langen Wartezeiten an der Zollschranke abwickeln?
Wenn es sich nicht um frische Waren handelt, gilt die Devise, Lager zu füllen, wo es nur geht. Alles was man jetzt produzieren kann, sollte man also auch jetzt produzieren und dann im Zielland auf Halde legen. Die zweite Möglichkeit ist, die Lieferkette umzuorganisieren. Vielleicht muss die gewünschte Ware ja gar nicht aus England kommen, sondern kann eventuell auch aus anderen Ländern importiert werden. Die dritte Variante ist der Transport per Luftfracht. Aber diese Option lebt von der Hoffnung, dass die Zollabfertigung an den Flughäfen schneller funktioniert als an der Zollschranke in Calais. Aber das wird nur funktionieren, solange das Volumen der Sendungen insgesamt niedrig ist. Allerdings werden viele Unternehmen von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, wodurch die Lieferzeit wieder länger wird.

Wie lange wird der britische Zoll bei einem harten Brexit voraussichtlich brauchen, bis die Lage wieder unter Kontrolle ist?
Das ist kaum abzusehen, weil es verschiedene Möglichkeiten gibt, das Problem zu lösen. Eine Lösung wäre, auf beiden Seiten mehr Zollbeamte einzustellen, um die Verfahren zu beschleunigen. Aber wie eben beschrieben, fällt das als kurzfristige Lösung aus. Sinnvoller wäre es wohl, wenn sich Großbritannien und die EU schnellst möglich auf ein Zollabkommen oder andere Verfahren einigen. Wichtig ist, die Formalitäten stark zu reduzieren oder im besten Fall wieder ganz abzuschaffen. Zumindest sollte es solche Abkommen sehr rasch für Waren wie Lebensmittel oder Pharmazeutika geben, die schnell transportiert werden müssen. Aufgrund der Entwicklungen der letzten Monate bin ich persönlich aber eher pessimistisch, dass solche Abkommen bald ausgehandelt werden. Denn offenbar haben derzeit beide Seiten keine klare Vorstellung davon, wie sie zukünftig miteinander Handel treiben wollen. 

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