Jubiläum Die nächsten 350 Jahre Merck

Hessen, Darmstadt: Der Schriftzug des Pharma- und Chemiekonzerns Merck vor einem Gebäude am Stammwerk. Quelle: dpa

Der Darmstädter Pharma- und Chemiekonzern wird 350 Jahre alt: Aus einer kleinen Apotheke im Jahr 1668 ist ein Weltunternehmen mit 15 Milliarden Euro Umsatz geworden. Nun will Merck fit für die nächsten 350 Jahre werden.

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In der Darmstädter Merck-Zentrale entstehen Innovationszentren. Ein neues, buntes, poppiges Logo prangt überall. Stefan Oschmann, der Vorsitzende der Geschäftsführung, redet beständig von Digitalisierung, Datenanalysen, Bits und Bytes. Längst sieht sich Merck als Wissenschafts- und Technologiekonzern – was irgendwie besser klingt als Pharma- und Chemiehersteller. Auch wenn der Konzern nun zum Jubiläum mit einem Festakt am Donnerstag seiner Vergangenheit huldigt – überall wird deutlich: Hier entsteht Zukunft.

Künftig sollen dank ausgefeilter Datenprogramme Informationen über Krankheiten schneller verarbeitet werden – und so dazu beitragen, dass neue Medikamente zügiger auf den Markt kommen. Algorithmen analysieren bereits, wie sich ein Käufer in Mercks Online-Shop für Laborchemikalien verhält – und empfehlen wie bei Amazon weitere Produkte zum Kauf.

Bald sollen Produktion und Vertrieb noch stärker digital verzahnt werden. „Wir wollen unsere Produktionsdaten mit dem Bestellverhalten im Online-Shop verknüpfen“, sagte Spartenchef Udit Batra kürzlich der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ). Merck kooperiert mit dem umstrittenen Datenspezialisten Palantir aus dem Silicon Valley, dem Verbindungen zu der durch den Facebook-Skandal berüchtigten Datenfirma Cambridge Analytica nachgesagt werden. Auch mit Google gibt es Gespräche über mögliche Kooperationen.

Ein Pharma-Riese in Familienhand
Nachfahrin Renate KoehlerEine historische Engel-Figur mit dem Familienwappen und historische Bilder: Sie erinnern an die 350 Jahre lange Geschichte der größten Apotheke in Darmstadt. Friedrich Jakob Merck hatte 1668 mit der Übernahme der zweiten Hofapotheke die Keimzelle für den gleichnamigen Pharma- und Chemiekonzern gelegt. Der Dreißigjährige Krieg war da erst 20 Jahre vorüber. Heute steht die „Engel“-Apotheke im Merck-Haus am Luisenplatz im Darmstädter Zentrum. Sie ist nach wie vor in Hand der Familie - so wie Merck selbst. Inhaberin Renate Koehler, eine Nachfahrin von Friedrich Jakob in elfter Generation, plant schon die Nachfolge: „Es ist moralisch eine wichtige Sache, dass es in der Familie bleibt.“ Quelle: dpa
Die GeburtstagsfeierDiese Tradition spielt in Darmstadt eine besondere Rolle. Denn Merck liegt mit rund 70 Prozent der Aktien in Besitz der Merck-Familie. Über die E. Merck Kommanditgesellschaft kontrolliert sie den Konzern. Damit ist Merck im Leitindex Dax ein Sonderfall.Am Donnerstag feiert sich das Unternehmen selbst, zusammen mit rund 800 Gästen. Viele der 270 Familienmitglieder reisen an, auch Kanzlerin Angela Merkel schaut vorbei. Mit 350 Jahren ragt Merck selbst unter alten deutschen Wirtschaftsriesen wie BASF oder Siemens heraus. Quelle: imago images
Von kleiner Apotheke zum forschenden Industrieunternehmen Seit 1668 hat Merck viel überstanden, nicht zuletzt zwei Weltkriege. Heute hat der Konzern fast 53.000 Mitarbeiter weltweit und erzielt gut 15 Milliarden Euro Umsatz pro Jahr. Er spielt im globalen Pharmakonzert mit, wenn auch nicht auf Augenhöhe mit den Branchenriesen aus der Schweiz oder den USA. Der Wandel von der kleinen Apotheke zum forschenden Industrieunternehmen habe sich mit dem wissenschaftlich gebildeten Emanuel Merck vollzogen, sagt Merck-Historikerin Sabine Bernschneider. Er legte 1827 für Ärzte, Chemiker und Apotheker eine Sammlung hochreiner Pflanzen-Alkaloide an - Naturstoff-Verbindungen mit medizinischer Wirkung. Sein Ziel: „Sie mit wenigen Kosten in den Stand (zu) setzen, Versuche anzustellen.“Im Bild: Ein Labor des Chemiekonzerns Merck in Darmstadt, 1920. Quelle: dpa
In die Welt hinausUm die Firma abzusichern, gründete Emanuel Merck mit seinen Söhnen 1850 die Gemeinschafts-Sozietät E. Merck mit mehreren Teilhabern - „im richtigen Moment die richtige Geschäftsidee“, so Bernschneider. Als Kaufmann, Apotheker und Chemiker führten die drei Brüder Merck gemeinsam. Schnell folgte die Expansion über Deutschland hinaus. Die Weltkriege aber warfen Merck zurück. So verlor der Konzern im Zuge des Ersten Weltkrieges seine US-Tochter. Als Merck & Co ist sie heute eigenständig und an der Wall Street notiert. Und 1944 wurden bei einem Luftangriff auf die Darmstädter Fabrik 60 Menschen getötet und fast 70 Prozent der Gebäude zerstört. Damals waren rund 3000 Leute, einschließlich 257 Zwangsarbeitern, in Darmstadt beschäftigt.Im Bild: Das Gelände des Chemiekonzerns Merck 1913. Quelle: dpa
Der Sprung in den DaxJahrzehnte später, 1995, gelang Merck der Aufstieg in den Dax per Börsengang. Mit 2,4 Milliarden D-Mark Volumen war er der bis dato größte Deutschlands. Die Familie trat die operative Führung ab, behielt aber die Kontrolle im Hintergrund. Wichtige Entscheidungen treffen seither andere. Merck kaufte etwa die Biotech-Firma Serono, den Spezialchemiekonzern Electronic Materials und den Laborausrüster Sigma-Aldrich. Allein Zukäufe seit 2007 kosteten 30 Milliarden Euro. Heute treibt Chef Stefan Oschmann den Umbau zum Wissenschaftskonzern voran. Als Arzneihersteller sieht sich Merck nicht mehr, selbst wenn die Sparte am meisten Umsatz bringt. Auch das Image soll moderner werden. Mit knalligen Farben will Merck die Marke aufpeppen. Und im neuen Innovationszentrum tüfteln Start-ups und Mitarbeiter an Ideen. Quelle: imago images
Gegenwärtige HerausforderungenDoch ausgerechnet im Jubiläumsjahr schwächelt Merck. 2018 werden leichte Rückgänge beim Betriebsergebnis erwartet. Im hochprofitablen Geschäft mit Flüssigkristallen etwa für Smartphone-Displays drückt die Konkurrenz aus China die Preise. Merck habe zu spät auf neue Wettbewerber reagiert, gab Frank Stangenberg-Haverkamp, Vorsitzender des Merck-Familienrats, zuletzt im „Manager Magazin“ zu. Zudem bringen alte Kassenschlager-Arzneien immer weniger Erlös. Große Hoffnungen liegen auf dem Mittel Avelumab, das das körpereigene Abwehrsystem stärken soll, um Krebszellen zu zerstören. Bei einem seltenen Hautkrebs und Blasenkrebs bekam es erste Zulassungen, scheiterte aber in anderen Tests. In der Pharmasparte ist Avelumab der einzige große Pfeil im Köcher von Merck - er muss sitzen. Quelle: dpa
Stefan OschmannIndes muss Merck für die angepeilte Wende 2019 Kompromisse machen. So verkaufte Merck-Chef Stefan Oschmann die rezeptfreien Arzneien an Procter & Gamble für 3,4 Milliarden Euro. Er braucht das Geld, um Schulden zu senken und teure Pharma-Blockbuster voranzutreiben: „Wir müssen unsere finanziellen Mittel genau einteilen.“ Zumal Merck für Enttäuschungen gewappnet sein muss, sollte Avelumab in weiteren Studien scheitern. Rückschläge allerdings hat Merck schon viele bewältigt, auch in der Apotheke von einst. Sie wurde im Bombenhagel 1944 weitgehend zerstört, sie soll nun in zwölfter Generation in der Merck-Familie bleiben. Koehlers Nichten könnten in einigen Jahren die neuen Chefinnen sein. Dann kämen die nächsten Mercks zum Zug. Quelle: REUTERS

Bei einer anderen Zukunftstechnologie, der Genschere Crispr, hat sich Merck bereits eine gute Ausgangsposition geschaffen. Dank Crispr lassen sich schädliche Gensequenzen, etwa bei seltenen Gendefekten, relativ einfach reparieren. Merck hält dazu in sechs Ländern wichtige Patente – wer dort mit der Methode arbeiten will, braucht womöglich eine Lizenz von Merck.
Nicht ganz so verheißungsvoll wie die Zukunft stellt sich aktuell die Gegenwart dar: Bei einem der bisherigen Spitzenprodukte – Flüssigkristallen, die in Smartphones oder Flachbildfernsehern zum Einsatz kommen – sinken die Preise, nachdem chinesische Investoren massiv in das Geschäft investieren. In der Pharma-Sparte von Merck wechselten sich zuletzt Licht und Schatten ab: Bei einem hoffnungsvollen Krebsmedikament erhielt Merck zwar Zulassungen bei kleineren Anwendungen wie etwa einem seltenen Hautkrebs, scheiterte dabei aber zunächst in größeren Indikationen wie Lungen- oder Magenkrebs. Zuletzt brachte Merck mit Mavenclad ein Mittel gegen Multiple Sklerose auf den Markt, das zuvor von den Zulassungsbehörden abgelehnt worden war.

Zum aktuellen Jubiläum erhält übrigens jeder Merck-Mitarbeiter in Deutschland Aktien im Wert von 350 Euro. Allerdings ist der Wert der Papiere gesunken: Vor zwölf Monaten notierten Merck-Aktien noch über 100 Euro, jetzt stehen sie bei etwas über 80 Euro.

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