Krankenversicherung Wie krank ist ihre Kasse?

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Warum eskaliert die Lage gerade jetzt? Den Kassen laufen trotz rund 170 Milliarden Euro Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds, in dem die Beiträge der Versicherten gesammelt werden, die Kosten davon. Doch fordern sie deshalb von ihren Kunden einen Zusatzbeitrag, begehen sie Selbstmord auf Raten. Der Deutschen BKK liefen nach Einführung eines Zusatzbeitrags von acht Euro pro Monat binnen Jahresfrist 140 000 Mitglieder weg, 15 Prozent der Kunden.

Für Steffen Hehner, Partner bei der Unternehmensberatung McKinsey, bewirkt der Obolus „einen Masseneffekt mit Spiralwirkung: Viele Kassen zögern den Zusatzbeitrag so lange wie möglich hinaus, weil sie wissen, dass er vor allem die gesunden Versicherten vertreibt, und damit die angespannte Finanzlage noch schwieriger wird.“ Hehner prophezeit: „In ein bis zwei Jahren wird die Finanzierung der gesamten GKV wieder zur Disposition stehen.“

Der Zusatzbeitrag erledigt nun, was ihm die letzte Gesundheitsreform aufgetragen hat: Er macht die Kassenlage der Kassen sichtbarer. „Es wird weitere Kassenfusionen geben, und die Zahl der Krankenkassen wird sich weiter reduzieren“, sagt der neue Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) der WirtschaftsWoche. „Wie viele schließlich übrig bleiben, das wird sich zeigen. Über die Zahl entscheidet nicht der Gesundheitsminister.“ Bahr spricht sich für einen funktionierenden Wettbewerb aus: „Wichtig ist mir, dass sich die Versicherten frei für die Kasse entscheiden können, die ihnen den besten Service bietet und das qualitativ beste Leistungsangebot macht.“

„Entscheidend ist nicht die Frage, wie viele Kassen überleben, sondern ob es die richtigen sind“, mahnt auch Karl Lauterbach, der gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. „Leider kann es sein, dass es nicht diejenigen Kassen wegreißt, die Managementprobleme haben, sondern schlicht jene, deren Versicherte am falschen Ort leben“, sagt der Gesundheitsökonom. In Ballungsgebieten mit hoher Arztdichte ist die Versorgung in der Regel besonders teuer. Hier drohen besonders viele Insolvenzen.

Intransparenz über die Lage der Krankenkassen

Mangels öffentlicher Zahlen können sich Kunden über die wahre Lage ihrer Kassen nicht kundig machen. Deshalb hat die WirtschaftsWoche die 30 größten Anbieter, bei denen gut 80 Prozent versichert sind, um wichtige Kennzahlen gebeten, die Anhaltspunkte dafür bieten. Die WirtschaftsWoche-Tabelle enthält Informationen wie den Gewinn je Versicherten, die Zahl der freiwillig gesetzlich Versicherten (je höher desto besser), mögliche Zusatzbeiträge (negativ) oder den Umgang mit Reserven.So schwankt der ausgewiesene Überschuss pro Versichertem zwischen 73 Euro plus bei der Techniker Krankenkasse und 89 Euro minus bei der Vereinigten IKK. Einige Kassen schließen Zusatzbeiträge für das kommende Jahr aus, andere halten sich das Türchen offen.

Verhaltene Auskunft

Nicht alle angefragten Kassen mochten der WirtschaftsWoche Auskunft geben, selbst bei simpelsten Fragen. So erklärte die Deutsche BKK, sie wolle sich aus wettbewerblichen Gründen nur zum Zusatzbeitrag äußern. Die AOK Nordwest ließ wissen, sie sehe von der Umfrage-teilnahme ab, weil sie wegen Fusionen nicht alle Fragen beantworten könne. Die BKK Gesundheit verzichtete auf einige Angaben unter Berufung auf das Geschäftsgeheimnis und um auf spekulative Prognosen zu verzichten. Die AOK Bayern und die AOK Nordost antworteten trotz Rückfragen bis Redaktionsschluss gar nicht.

Nicht in einer Tabelle darstellbar, aber für Kunden wahrnehmbare Signale einer Kasse im Abschwung sind zunehmend reduzierte Leistungen oder auch zuvor schweigsame Kassenchefs, die in der Öffentlichkeit plötzlich lautstark Veränderungen anmahnen, zum Beispiel ein härteres Durchgreifen gegenüber Leistungserbringern wie Kliniken oder Pharmaunternehmen.

Größe allein reicht nicht

Hat eine Kasse wenig Versicherte, kann das ein Risikosignal sein, muss es aber nicht. Zwar argumentieren viele Ökonomen, nur Anbieter mit mindestens einer Million Kunden seien erfolgreich. Dagegen kontert Jan Leiding, Expertefür Kassen-Fusionen der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young: „Auch kleine Kassen mit einem klaren Kundenprofil und innovativem Management sind absolut lebensfähig.“ Großfusionen allein seien keine Lösung: „Im Vergleich zur Privatwirtschaft laufen sie bei den Krankenkassen oft sehr unprofessionell. Statt finanzieller Strukturen und Strategien stehen oft politische Fragen im Vordergrund oder wie die Mandate der Vorstände und Verwaltungsräte erhalten werden können.“

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