Dass er im Internet auf das Werbevideo stieß, war reiner Zufall. Misstrauisch wurde er sofort: Wurden in dem Spot doch Produkte angeboten, die dem Mitarbeiter des Automobilherstellers Daimler sehr bekannt vorkamen: Steuerungseinheiten für Lkw-Motoren, für rund 450 Euro pro Stück. Gut erkennbar waren in diesem Video nicht nur Form und Funktion der Produkte, sondern auch ihre Teilenummern. Woraus der Mann nicht nur schloss, dass sie aus der Daimler-eigenen Produktion stammen mussten. Sondern auch, dass exakt diese Geräte im Bestand seines Arbeitgebers fehlten.
Der Mann meldete seinen Verdacht unverzüglich – über ein Informationssystem, das Daimler eigens für solche Fälle installiert hatte. Und trug so entscheidend dazu bei, den Dieb zu überführen. Die Folge: Entlassung des klauenden Kollegen und Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft.
Ob der Whistleblower die Telefonhotline des Autobauers nutzte, eine Mail direkt an die Compliance-Abteilung schickte, ein Internet-Formular ausfüllte oder die Frankfurter Rechtsanwältin Regina Michalke ansprach, die Daimler als neutrale externe Anlaufstelle für Mitarbeiter installiert hat, denen interne Vorgänge im Unternehmen verdächtig vorkommen, verrät Daimler nicht. Ebenso wenig wie die Höhe des Schadens oder gar den Namen des aufmerksamen Mitarbeiters, der den Schaden gemeldet hatte.
700 Hinweise in einem Jahr
„Genauso wichtig wie der Schutz der Betroffenen ist für uns auch der Schutz der Hinweisgeber“, sagt Wolfgang Herb, bei Daimler verantwortlicher Manager für Compliance – also dafür, dass gesetzliche und unternehmensinterne Vorschriften von allen Mitarbeitern eingehalten werden. „Nur so können die Mitarbeiter dem Hinweisgebersystem vertrauen und zur Aufklärung von Fehlverhalten beitragen.“
Die weltweite Daimler-Hotline ist aus 39 Ländern erreichbar, die Mitarbeiter können Verdächtiges in 24 verschiedenen Sprachen melden. Gut 700 Hinweise gingen in Herbs Abteilung im vergangenen Jahr ein, von denen die große Mehrheit zwar wegen Bedeutungslosigkeit nicht weiter verfolgt oder unkompliziert etwa über die Personalabteilung gelöst wurde. Immerhin 25 dieser Meldungen aber trugen entscheidend dazu bei, schwerwiegende juristische Verstöße aufzudecken, zu verfolgen und abzustellen – von verletzten Rechnungslegungsvorschriften über Kartellverstöße bis hin zu Bestechungsdelikten. „Unser Hinweisgebersystem wird von der Belegschaft zunehmend stärker akzeptiert“, sagt Herb, „auch durch die öffentliche Wirkung von Whistleblowern wie Edward Snowden.“
Viele kleine Snowdens
Ob Bestechung oder Bestechlichkeit, Diebstahl, Unterschlagung, Betrug oder Kartellvergehen: Unternehmen auch in Deutschland bauen auf die Wachsamkeit vieler kleiner Snowdens. Statt sie, wie es etwa Ex-Mahlo-Personalmanager Georg Wiesbeck erfahren musste, als Denunzianten zu diffamieren, bieten ihnen die meisten Unternehmen mittlerweile eine Vielzahl von Kanälen, um ihre Verdächtigungen zu offenbaren: vom profanen Briefkasten über Telefon-Hotlines und Web-Formulare bis hin zu Anwaltskanzleien, die sich als externe Anlaufstelle anbieten und mit ihrer anwaltlichen Schweigepflicht werben. Ausgefeilte technische Systeme machen es möglich, dass Tippgeber anonym bleiben, die Unternehmen aber trotzdem Rückfragen an die Informanten stellen können.
„Die großen Unternehmen haben alle Hinweisgebersysteme“, bestätigt Stefan Heissner, Leiter der Abteilung Wirtschaftskriminalität in Unternehmen der internationalen Beratungsgesellschaft EY. Von einem 34-Mann-Team vor acht Jahren ist sie in Deutschland auf 130 Mitarbeiter angewachsen, in Europa kümmern sich insgesamt 400 Mitarbeiter darum, Kunden bei der Aufklärung interner krimineller Machenschaften zu unterstützen.