Produktivität Vier-Tage-Woche bei vollem Gehalt? Wie das funktionieren kann

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Das sagen deutsche Arbeitsmarktexperten

Deutsche Arbeitsmarktexperten haben Vorbehalte, aber auch konkrete Vorschläge, was das ungewöhnliche Modell angeht. Die WirtschaftsWoche hat nachgefragt bei Norbert Reuter, Leiter der tarifpolitischen Grundsatzabteilung der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (Ver.di), und bei dem Ökonomen Alexander Spermann, Privatdozent an der Universität Freiburg.

In dem Fallbeispiel aus Neuseeland klingt die Vier-Tage-Woche so einfach. Was halten Sie von diesem Experiment?
Reuter: Es ist seit langem bekannt, dass kürzere Arbeitszeiten mit einem Anstieg der Produktivität verbunden sind, weil die Produktivität von Beschäftigten mit der Dauer der täglichen Arbeitszeit zurückgeht. Vor diesem Hintergrund wäre eher eine zeitliche Begrenzung pro Tag sinnvoll. Auf jeden Fall sollte es den Beschäftigten selbst überlassen sein, wie sie ihre Arbeitszeit auf die Tage von Montag bis Freitag verteilen.

Spermann: Das neuseeländische Experiment bestätigt die Einsicht, die bereits Henry Ford ein Jahrhundert früher durch die Zahlung höherer Löhne in der Fließbandproduktion gewann: Sogenannte Effizienzlöhne wirken wie eine Produktivitätspeitsche auf betriebswirtschaftlicher Ebene. Leider lässt sich diese Einsicht nicht auf alle Unternehmen und auch nicht auf die Volkswirtschaft übertragen.

Was spricht aus Ihrer Sicht für eine Vier-Tage-Woche bei vollem Lohn?
Reuter: Dafür spricht grundsätzlich, dass der voranschreitende Produktivitätsfortschritt grundsätzlich kürzere Arbeitszeiten bei gleichem Output ermöglicht, zumal Zeitwohlstand – also mehr freie Zeit – für die Beschäftigten immer wichtiger wird. Ver.di setzt sich seit langem für die „Kurze Vollzeit für alle“ bei vollem Lohn- und Personalausgleich ein. Allerdings sollen Beschäftigte selbst wählen können, wann sie die verkürzte Arbeitszeit nehmen – also ob sie eine Wochenarbeitszeitverkürzung, mehr Urlaubstage oder ein Sabbatical bevorzugen.

Spermann: Auf betrieblicher Ebene kann eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit sich nur dann rechnen, wenn die Produktivitätseffekte sehr hoch sind. In Einzelfällen ist das nicht auszuschließen, wie das neuseeländische Experiment zeigt.

Was spricht dagegen?
Reuter: Wenn die Arbeitstage lediglich von fünf auf vier Tage verkürzt würden, ohne jegliche Reduzierung des Arbeitspensums, hätten die Arbeitgeber keinerlei höhere Kosten oder Nachteile, die Beschäftigten aber mit einer höheren Arbeitsbelastung zu kämpfen. Auf den ersten Blick scheint ein solches Modell für Beschäftigte attraktiv – die langfristigen Folgen könnten negativ sein; damit würde dann auch der anfängliche Zuspruch schwinden.

Spermann: Auf volkswirtschaftlicher Ebene führen Stundenlohnerhöhungen durch Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich zu höherer Arbeitslosigkeit. 1982 wurde in Frankreich die Arbeitswoche verpflichtend für alle Unternehmen von 40 auf 39 Stunden reduziert. Dadurch verringerte sich auch die tatsächlich gearbeitete Wochenarbeitszeit und der Stundenlohn erhöhte sich. Die jährliche Beschäftigung ging um vier Prozentpunkte im Vergleich zu einer nicht betroffenen Vergleichsgruppe zurück.

Sind einige Branchen oder Unternehmensformen besser für dieses Modell geeignet?
Reuter: Eine Vier-Tage-Woche ist sicherlich für Großkonzerne leichter umsetzbar, da in der Regel der Betrieb weiterhin an mindestens fünf Tagen läuft.

Spermann: Eine Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich für alle Beschäftigten erfordert gewaltige Produktivitätszuwächse. Wir beobachten jedoch, dass die Arbeitsproduktivität in der Dienstleistungsgesellschaft nur sehr langsam wächst. Es werden nie alle Voraussetzungen für eine generelle Vier-Tage-Woche bei vollem Lohn erfüllt sein.

Ist die Vier-Tage-Woche ein Thema, das durch den Wandel der Arbeitswelt aktuell geworden ist – oder ist sie in Wahrheit ein alter Hut?
Spermann: Der Wunsch, weniger zu arbeiten und mehr Zeit für Familie und Freizeit zu haben, lässt sich in den letzten Jahren verstärkt aus Umfrageergebnissen herauslesen. Hintergrund ist die weitgehende Vollbeschäftigung und der teilweise Fachkräftemangel in Deutschland, die einen allgemeinen Wertewandel positiv unterstützen.

Bleibt Teilzeit auf absehbare Zeit dem konkreten Bedarf bestimmter Gruppen (Eltern, Senioren, pflegende Angehörige) vorbehalten oder ist eine allgemeine Flexibilisierung zu erkennen?
Reuter: Grundsätzlich zeichnet sich die wirtschaftliche Entwicklung dadurch aus, dass der Wohlstand insgesamt zunimmt. Zu wünschen wäre, dass alle Menschen daran teilhaben. Das ist leider nicht der Fall. Grundsätzlich wird es bei einem hohem Einkommensniveau aber möglich, zwischen mehr Einkommen oder mehr Freizeit zu wählen. Und hier zeigt sich, dass die Freizeitoption immer attraktiver wird. Insofern wird die Frage, wie gehen wir mit unserer Zeit um und was passiert jenseits der Erwerbsarbeit, immer wichtiger.

Wie lässt sich Arbeitszeit bestmöglich organisieren?
Spermann: Ein „one size fits all”-Arbeitszeitmodell kann es nicht geben. Je nach Lebensphase unterschiedliche Arbeitszeitmodelle, die den Präferenzen der Arbeitnehmer entsprechen, jedoch auch für Arbeitgeber organisatorisch abbildbar sind – das ist anzustreben.

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