Rhetorik Die Kunst des Bluffs

So viel Lüge braucht die Karriere

Wer Karriere machen will, muss manchmal auch lügen können. In zwei Branchen ist das besonders schlimm.

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Sein Aha-Erlebnis hatte Lutz Kaufmann während einer Exkursion. An einem Tag im Juni 2015 war der Professor der WHU - Otto Beisheim School of Management mit seinen Studenten bei einem Experten zu Gast: Der Chefeinkäufer eines großen deutschen Unternehmens sollte den Studenten Einblick gewähren in seine Verhandlungstaktik. Er erzählte von Gesprächen, in denen es ihm gelungen war, die Gegenseite mit falschen Zahlen zu übervorteilen; ihr durch Halbwahrheiten Zugeständnisse abzuringen; oder langjährige Geschäftspartner durch simulierte Unzufriedenheit einzuschüchtern. Je länger Kaufmann diesen Anekdoten lauschte, desto nervöser wurde er. Und unterbrach seinen Gastredner schließlich. Ob er den Studenten tatsächlich raten wolle, besonders geschickt zu lügen? Der Referent schaute ihn verblüfft an. Die Frage verstehe er nicht, antwortete er, genauso wenig wie die moralische Entrüstung. Für seinen Job sei es nun mal entscheidend, die Kunst der Täuschung zu beherrschen.

Kaufmann hat diese Begegnung nie vergessen. Weckte sie doch sein Interesse als Forscher: Fehlte dem Manager tatsächlich ein moralischer Kompass? Oder verdankte er seine Karriere sogar zu einem guten Teil seinem Talent zur Lüge? Kaufmann nahm sich vor, Antworten auf diese Fragen zu finden. Er sprach mit Mitarbeitern anderer Unternehmen und förderte dabei erstaunliche Bekenntnisse zutage: Den Spitzenwert erreichte eine Angestellte, die auch im Einkauf tätig war. Die Frau erklärte, sie würde in gut 90 Prozent ihrer Verhandlungen bluffen. Das war selbst für Schummel-Experte Kaufmann zu viel. „Ich hatte mit einem Wert um die 40 Prozent gerechnet“, sagt er. Doch eigentlich ist es fast egal, wie häufig die Mitarbeiter ihre Tricks anwenden. Bemerkenswert ist, dass sie es überhaupt tun. Widerspricht ihr Verhalten doch dem, was gemeinhin als unerschütterliches Gebot des Miteinanders gilt: Du sollst nicht lügen. Im Büro aber scheint das nicht zu gelten.

Ganz im Gegenteil: Dort ist der Ehrliche offenbar der Dumme.

Tatsächlich gibt jeder dritte Angestellte in Deutschland zu, seinen Kollegen gegenüber regelmäßig unehrlich zu sein. Jeder Fünfte lügt seinen Chef an, so das Ergebnis einer Studie des Marktforschungsinstituts Splendid Research aus dem Jahr 2016. Für viele Menschen gehört Tricksen und Flunkern im Job zum Geschäft. Das zeigen nicht zuletzt die Enthüllungen des Dieselskandals: Der systematische Betrug in der Autobranche konnte nur funktionieren, weil Mitarbeiter quer durch alle Hierarchien dazu bereit waren, bei der Täuschung mitzuspielen, ja sogar persönlich davon zu profitieren.

Aber wie viel Lüge braucht es tatsächlich, um Karriere zu machen? Dass kein Berufsweg ohne zeitweiligen Betrug auskommt, wissen Psychologen schon lange. In vielen Flunkereien sehen sie längst keinen moralischen Makel mehr. Immer besser können sie belegen, wie viel Ehrlichkeit wir uns im Job leisten können, welcher Betrug sich im Büro auszahlt und wo die Grenzen liegen.

Die auszutesten erfordert Fingerspitzengefühl. „Prinzipiell hat die Forschung gezeigt, dass Beziehungen leiden, wenn ein Gesprächspartner unehrlich ist“, sagt Kristina Suchotzki, Psychologin an der Universität Würzburg. Je nach Kontext ist deshalb ein anderes Maß an Ehrlichkeit zweckmäßig. Da sind zunächst die kleinen Lügen des Alltags, „white lies“ genannt: geheucheltes Interesse an den Urlaubsfotos der Vorgesetzten, übertriebenes Lob für den verunsicherten Azubi, Schmeicheleien gegenüber den Mitarbeitern aus der IT. Diese wohlmeinenden Lügen dienen als sozialer Schmierstoff – und sind nach Meinung der Expertin unverzichtbar: „Sie helfen dabei, Freundschaften zu pflegen, Verbündete zu finden und kleinere Konflikte zu glätten.“

Man muss das nicht gutheißen, aber es lässt sich nicht bestreiten: Wer das Spiel mit diesen Tricks beherrscht, eckt weniger an und kann sein Ansehen bei Chefs und Kollegen steigern. Meist bemerken Menschen nicht mal, wenn sie derart flunkern. Vielmehr haben sie schlicht das Gefühl, anderen gegenüber besonders freundlich zu sein. Radikale Ehrlichkeit kann auch verletzend wirken.

Sozialer Schmierstoff

Weiße Lügen gehen uns deshalb ganz leicht von den Lippen, manche Psychologen glauben sogar, bis zu 200 Mal am Tag. Handfeste Lügen erzählen wir dagegen nur etwa zweimal täglich. Diese „black lies“ können mitunter verheerend wirken: Fliegt der Schwindel auf, ist das Vertrauen des Gegenübers zerstört – und der eigene Ruf auf Dauer ruiniert. Schönfärberei hingegen wird häufig akzeptiert. Beim ersten Date etwa, aber auch beim Vorstellungsgespräch, erklärt Psychologin Suchotzki. „Alle Beteiligten wissen in dieser Situation, dass sowohl der Bewerber als auch das Unternehmen in besonders gutem Licht dastehen wollen.“

Wer eigene Erfolge aber immer noch übertrieben positiv darstellt, wenn er längst Teil eines Teams ist, macht sich bei Kollegen schnell unbeliebt – und kann Vorgesetzte enttäuschen, wenn die Luftnummer auffliegt. Auch Untersuchungen der finnischen Universität Aalto zeigen eindrücklich, wie soziale Netzwerke dann leiden: Im Jahr 2015 entwickelten die beiden Informatiker Kimmo Kaski und Robin Dunbar ein Rechenmodell, das die Kontakte zwischen 100 Teammitgliedern abbildet. Radikale Ehrlichkeit schmälerte den Zusammenhalt innerhalb dieser Gruppe. Wo dagegen wohlmeinend gelogen wurde, entwickelten sich durch die gegenseitigen Komplimente und Schmeicheleien enge Bindungen.

Bleibt eine dritte Testgruppe: die notorischen Lügner. Sie verbreiten Unwahrheiten in erster Linie aus rein egoistischen Motiven – und isolieren sich damit den Berechnungen zufolge extrem schnell vom Rest des Teams. Der Effekt steigert sich noch, wenn mehrere Teilnehmer bereit sind zum falschen Spiel. Dann bricht das Vertrauen ineinander so stark ein, dass die Gruppe sich zu einem Team von Einzelkämpfern entwickelt – für Unternehmen fatal.

Schlaue Chefs machen sich deshalb das ganz unterschiedliche Talent ihrer Mitarbeiter zur weißen Lüge zunutze – und strafen Hochstapler ab. Udo Witte etwa, Geschäftsführer des niederländischen Unternehmens Aalberts Industries Industrial Services, tritt selbst geradeaus und ehrlich auf. „Diese weichgespülte Sonnenschein-Attitüde, wie sie zum Beispiel in vielen amerikanischen Firmen üblich ist, liegt mir nicht. Ich bin gerne gut gelaunt, auch meinen Mitarbeitern gegenüber – sage aber auch offen, wenn mich etwas stört.“ Deshalb schätzt Witte Kollegen, die mit ihren freundlichen Flunkereien das Team stärken und bei Laune halten. Dreiste Trickser aber stellt der Manager zur Rede und isoliert sie, wenn nötig.

Unehrlicher Finanzsektor

In einigen Branchen scheint die Bereitschaft zur Lüge allerdings zu den erwarteten Soft Skills zu zählen – und der geschickte Umgang mit ihr ein Karrierevorteil. Das legt zumindest eine Untersuchung von Sarah Jenkins und Rick Delbridge nahe. Die Organisationsforscher der Universität von Cardiff beobachteten für ihre 2017 veröffentlichte Studie Mitarbeiter von Callcentern. Diese nahmen im Auftrag anderer Firmen Anrufe entgegen, sollten am Telefon aber den Eindruck erwecken, ein gewöhnliches Sekretariat zu sein. Mit anderen Worten: Sie sollten die Kunden anschwindeln.

Dementsprechend kreativ reagierten die Mitarbeiter auf Nachfragen der Anrufer. Sie antworteten zum Beispiel, der direkte Ansprechpartner sei „nur kurz aus der Tür“ oder telefoniere gerade. Ein moralisches Dilemma sah darin kaum ein Teilnehmer. Stattdessen gaben sie an, sich im Büro eher dem Unternehmen verpflichtet zu fühlen als ihrem eigenen Gewissen.

Der Effekt wurde auch für andere Branchen bestätigt: So fanden Alain Cohn, Ernst Fehr und Michel Maréchal von der Universität Zürich heraus, dass auch Banker überdurchschnittlich häufig betrügen. Für ihre 2014 im Wissenschaftsmagazin „Nature“ veröffentlichte Studie luden sie 330 Mitarbeiter verschiedener Branchen zu einem Gewinnspiel ein, das leicht auszutricksen war. Angestellte aus dem Finanzsektor waren dazu überdurchschnittlich häufig bereit, selbst wenn nur geringe Geldsummen zu gewinnen waren. Zum Betrug neigten sie aber nur dann stärker als andere Teilnehmer, wenn sie kurz zuvor an ihren Job erinnert wurden. Gaben die drei Wirtschaftswissenschaftler dagegen an, sie als Privatperson zu testen, blieben die Werte unauffällig. Offenbar streifen sich Bankangestellten den Pinocchio über wie einen Arbeitskittel.

Bewunderung für den Bluff

Dass es einen Zusammenhang zwischen Profession und der Bereitschaft zur Lüge gibt, zeigt sich mitunter schon während des Studiums. Darauf weisen zumindest Untersuchungen der Rutgers-Universität in New Jersey hin. Seit drei Jahrzehnten wird dort das Tricksen von Studenten erforscht, mit überraschend konstanten Ergebnissen: Ganz gleich, ob es um Plagiate bei Abschlussarbeiten, Schummeleien in Klausuren oder das Engagement von Ghostwritern geht – stets zählen Wirtschaftsstudenten zu den Teilnehmern, die besonders häufig betrügen, gefolgt von den angehenden Ingenieuren. Absolventen also, denen meist eine Laufbahn in finanziell attraktiven Branchen offensteht.

Wer derart trickst und damit durchkommt, wird mit einem emotionalen Schub fürs Ego belohnt. Psychologen sprechen vom „cheaters high“: Betrüger, die beim Schummeln nicht erwischt werden, durchströmen enorme Glücksgefühle, die sie auch im Job vorantreiben können. Dagegen kommt das eher ruhige Überlegenheitsgefühl ehrlicher Kollegen nicht an. Stattdessen werden sie allzu leicht von den Lügnern mitgerissen. Für eine Studie ließen Martin G. Kocher, Simeon Schudy und Lisa Spantig von der LMU München Teilnehmer im Labor um geringe Geldbeträge spielen, einzeln und in kleinen Mannschaften. Die Gruppen konnten sich untereinander absprechen – und nutzten die Möglichkeit bald eifrig, um gemeinsam zu schummeln. „Selbst Teilnehmer, die einzeln besonders ehrlich gespielt hatten, ließen sich im Team korrumpieren“, sagt Verhaltensökonomin Spantig. Entscheidend war die Gruppendynamik: „Sobald auch nur ein Teammitglied die Idee vorbrachte, beim Spiel zu tricksen, erodierte meist bei allen Teilnehmern die Bereitschaft zum ehrlichen Handeln.“

Trotzdem gelten auch beim dreisten Lügen Regeln. Offenbar verfügen die meisten Menschen über feine Antennen dafür, welche Falschaussage gerade noch tragbar ist – und wann eine Unwahrheit übers Ziel hinausschießt. Lutz Kaufmann unterscheidet dazu die böswillige Lüge vom geschickten Bluff, werden sie im Berufsalltag doch vollkommen unterschiedlich wahrgenommen.

Je höher das Gehalt, desto mehr Überstunden
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Da ist auf der einen Seite die glatte Lüge, etwa durch bewusst falsche Versprechen und gezielte Fehlinformationen. Auf der anderen Seite der Bluff, der eher auf vorgetäuschte Emotionen und leere Drohungen setzt. Dieser graduelle Unterschied zeigt große Wirkung, wie Kaufmann in einer aktuellen Studie nachweisen konnte. Darin ließ er 90 Praktiker um einen imaginären Rohstoffeinkauf verhandeln. Ihr Gegenüber verhielt sich in den Gesprächen unfair und erzählte entweder Lügen oder Bluffs.

Am Ende der Verhandlung sollten die Probanden angeben, ob sie gerne weiter mit dem unehrlichen Gesprächspartner verhandeln würden. Das Urteil war eindeutig: Der Lügner galt als unmoralisch und wurde abgestraft, kaum ein Teilnehmer wollte weiter mit ihm zu tun haben. Anders erging es dagegen den Probanden, die Opfer eines Bluffs geworden waren. Sie machten dem Blender keine moralischen Vorwürfe. Mehr noch: Sie ärgerten sich nicht einmal über ihn – sondern über sich selbst, weil sie einem Trick aufgesessen waren. Vielmehr bewunderten sie den geschickten Bluffer sogar noch für seine Unehrlichkeit.

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