Serious Games Videospiele sollen die Weiterbildung retten

Corona bringt die betriebliche Weiterbildung zum Erliegen. Lernen via Videochat hat sich nicht bewährt. Nun sollen es Videospiele richten. Kann das funktionieren?

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Ein sonniger Tag in Venedig zu Zeiten von Leonardo Da Vinci. Das türkisfarbene Wasser schimmert in der Animation, davor ein Holzsteg am Hafen. Drei Männer stehen dort, alle in die traditionelle Kleidung venezianischer Händler gehüllt. Einer, er trägt Pumphosen in dunkelgrün, einen Schnauz- und Kinnbart, lässt sich per Mausklick anwählen. 

Was klingt wie ein gewöhnliches Videospiel, ist in Wirklichkeit viel mehr als das: ein Serious Game. So bezeichnet man Anwendungen, die auf spielerische Weise Wissen vermitteln. Beim Spiel in Venedig geht es darum, Mitarbeitern neue Verhandlungstechniken beizubringen. Immer mehr Unternehmen setzen solche Spiele zur Weiterbildung ein, gerade während der Corona-Zeit ist die Nachfrage nach dieser Art der Weiterbildung gestiegen. So hat sich beim Arc Institute, einem großen Anbieter für Serious Games, das monatliche Wachstum seit März auf fast 17 Prozent verdoppelt. 

Und das ist längst nicht alles. „Das Marktpotenzial ist noch lange nicht ausgeschöpft“, sagt Felix Falk, Geschäftsführer des Verbands der deutschen Games-Branche über Serious Games. Gestützt auf von der Beratungsgesellschaft PwC erhobene Daten, prognostiziert der Verband ein durchschnittliches jährliches Wachstum von 19 Prozent in diesem Segment. 2023 soll es dann ein 370-Millionen-Dollar-Markt sein.

Weiterbildung nach Feierabend

„Über 70 Prozent der Kunden, nutzen die Spiele auch nach 18 Uhr oder am Wochenende“, sagt Dominik Förschler. Er ist Geschäftsführer des Arc Institute, das in Zusammenarbeit mit dem spanischen Unternehmen Game-Learn Serious Games vertreibt. Selbst zum leidigen Thema Datenschutz hätten sich noch mehr als 30 Prozent der Mitarbeiter außerhalb der Arbeitszeit weitergebildet. Mit einem 150-seitigen Papier, in dem die Punkte einfach aufgelistet sind, undenkbar – das würde wohl kaum jemand nach der Arbeit noch freiwillig anfassen. Doch Gamification macht es möglich. Vor allem, wenn schnöde Belohnungssysteme aus dem analogen Raum, wie beispielsweise Mitarbeiter-des-Monats-Schilder, in virtuelle Highscores übertragen werden und Mitarbeiter in Ranglisten auf- und absteigen können.

Früher hat Förschler selbst Vor-Ort-Trainings in Unternehmen durchgeführt. Doch schon vor sieben Jahren war er der Meinung, dass diese Art der Weiterbildung durch die Digitalisierung vernichtet wird und stieg in das Serious-Games-Geschäft ein. Erfolgreich, wie es scheint, denn nach seiner Aussage sind unter anderem 24 der 30 Dax-Unternehmen sowie zahlreiche Mittelständler seine Kunden. Auch Firmen mit Sitz im Ausland nutzen die Innovation, denn die Spiele sind in verschiedenen Sprachen verfügbar und können so auch in internationalen Unternehmen für alle Mitarbeiter eingesetzt werden.

Dieser Aspekt überzeugt auch Sabine Kirsch, die bei Infineon global für den Audit-Bereich zuständig ist. Sie hat das Kaufmann-Spiel in ihrer Abteilung erfolgreich zur Weiterbildung eingesetzt. Vor-Ort-Schulungen für ein internationales Team auf Englisch in Deutschland zu finden, sei nahezu unmöglich. Und wenn, dann sei zwar die Schulung auf Englisch, die Trainingsunterlagen aber auf Deutsch. Außerdem sei die Teilnehmerzahl in einigen Ländern so niedrig, dass sich eine Vor-Ort-Schulung nicht lohnt. Serious Games sind für Kirsch also die Gelegenheit, etwas für alle zusammen zu machen. Die Mitarbeiter aus ihrem Team, die aus Portugal, China oder Malaysia kommen, können so alle in ihrer Muttersprache trainieren und haben trotzdem denselben Lerneffekt. „Uns hat's Spaß gemacht,“ sagt Kirsch. In den Spielen werden die Mitarbeiter außerdem die ganze Zeit gefordert und sammeln so praktische Erfahrungen – anders als bei herkömmlichem Frontalunterricht. So sieht das auch Stefan Raimann, Leiter der internen Revision bei der Schweizer Bundesbahn. Für ihn sind Serious Games ein „zusätzliches Lernstandbein“ mit einem „Riesenpotenzial“, da jeder Mensch anders lerne. Durch die Interaktion wirke der Lerneffekt viel mehr nach, als wenn man nur passiv konsumiere.

Bei der eingangs geschilderten Szene muss man mit dem dunkelgrün gekleideten Mann zu einer Lösung kommen: Durch Fehler beider Seiten kann ein Schiff voller wertvoller Waren nicht aus dem Hafen ablegen, denn für den Zoll werden 100 Dukaten fällig, die einen selbst in eine finanzielle Krise stürzen würden. Was tun? Dem Gegenüber seine Fehler vorwerfen? Sich selbst kleinmachen und alles auf die eigene Kappe nehmen? Der Spieler kann aktiv anwählen, wie er auf die Aussagen des anderen Händlers reagiert. Zwei Balken zeigen zum einen das Vertrauensverhältnis an, das durch die Äußerungen entsteht, und zum anderen, ob die eigenen Interessen auch gewahrt sind. Ist man der Meinung, dass diese beiden Punkte ausgeglichen sind, kann man dem Gegenüber ein Angebot unterbreiten. Ob er es annimmt, hängt vom eigenen Verhandlungsgeschick ab.

Praktisches Training im geschützten Raum

Einen besonderen Trend bei den Serious Games sieht Falk vom Verband der deutschen Games-Branche im Gesundheitsbereich. In der Universitätsmedizin Göttingen können sich Studierende beispielsweise mit dem Serious Game „Emerge“, auf den hektischen Alltag in der Notaufnahme vorbereiten. Bevor sie als virtueller Arzt im Spiel zum Patienten gehen, dürfen sie nicht vergessen, sich die Hände zu desinfizieren, sonst kommen sie nicht weiter. Mit welcher Frage bekommen die Studenten am ehesten heraus, was dem Patienten fehlt? Was diagnostizieren sie nach der jeweiligen Aussage? Durch Serious Games lassen sich Ernstsituationen in einem geschützten Raum üben. Der Vorteil davon: „Man kann keinen Schaden anrichten und trotzdem Konsequenzen ziehen“, sagt Tomislav Bodrozic, Geschäftsführer des Gaming-Start-ups Fabula Games. Anders als in Präsenztrainings, wo oft im Team Situationen angegangen werden müssen, bleibe hier kein Platz für Angst oder Scham. Die Fehlerbereitschaft sei höher. In Serious Games lernen Mitarbeiter also nach dem Trial-and-Error-Prinzip – ohne, dass jemand was von den Fehlern mitkriegt.

Serious Games gibt es zum einen als Universallösung. Die standardisierten Spieleumgebungen lassen sich aber auch auf den jeweiligen Kunden anpassen: Beim Spiel Mars von Game-Learn beispielsweise muss man ähnlich wie im Videospielklassiker Sim City eine Kolonie auf dem Mars aufbauen. Dafür braucht der Spieler Geld. Um an die virtuelle Währung zu kommen, muss man aber Fragen zu einem bestimmten Thema beantworten, die das Unternehmen selbst festlegt. Gleichzeitig können die Mitarbeiter aber auch selbst Fragen zum Katalog hinzufügen. So wird Wissen von Mitarbeiter zu Mitarbeiter weitergegeben. Über Fragen und Antworten können die Mitarbeiter diskutieren und so auf neue Lösungen und Gedanken kommen. 

Candy Crush fürs Büro

Dann gibt es noch speziell auf den Kunden zugeschnittene Lösungen. Die bietet zum Beispiel Tom Bodrozics Startup Fabula Games. Jedes Spiel wird von der Pike auf neu konzipiert, bekommt ein eigenes Design, eigene Charaktere, eigene Auswahlmöglichkeiten. So hat Bodrozic beispielsweise auch ein Spiel für Vertriebler entwickelt, die sich alle Produkteigenschaften von Hautschutzcremes merken müssen. Statt schnöde Tabellen auswendig zu lernen, gibt es 90-sekündige Minispiele, bei dem Eigenschaften von oben herabfallen und dem richtigen Produkt zugeordnet werden müssen, oder ein „Shoot-em-up-Spiel“ wie seinerzeit Space Invador, bei dem herabfallende Schmutzpartikel mit der richtigen Hautcreme abgeschossen werden müssen. Wer mit dem Spieleentwickler spricht, wird von seiner Begeisterung für Serious Games schier mitgerissen. „Wenn Leute merken, dass Lernen Spaß macht, ist das das Schönste auf der Welt.“ Lebenslanges Lernen sei nötig und dürfe daher nicht länger als „Übel“ oder „Pflichtveranstaltung“ angesehen werden. Im historischen Venedig geht es weiter zur zweiten Lektion: Für eine Handelsfahrt gilt es Seemänner anzuwerben.

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