Die Masken fallen, die Inzidenzen steigen. So lässt sich zusammenfassen, was derzeit in Deutschland und im Rest Europas vor sich geht. Und während Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) schon verkündet, die „befürchtete Sommerwelle ist Realität“, hat sich in den allermeisten Konzernen die Sorglosigkeit breitgemacht.
Ein Großteil der Arbeitgeber setzt bei Masken und Tests auf Freiwilligkeit und Eigenverantwortung, auch weil die entsprechende Arbeitsschutzverordnung und damit der rechtliche Rahmen am 25. Mai ausgelaufen ist. Ein paar Regeln gibt es hier und da dann doch noch. Bei der Otto Group in Hamburg etwa sind Belegungsobergrenzen für Besprechungsräume festgelegt.
Bei Heidelberger Druck in der Kantine sitzen die Kollegen und Kolleginnen weiter auseinander als vor der Pandemie. Maskenpflicht besteht überall dort, wo der Mindestabstand von 1,5 Metern nicht gewahrt werden kann. Beim Energieversorger EnBW gelten zumindest in den systemkritischen Bereichen, wie etwa den Kraftwerken, strengere Regeln als in der Verwaltung: von einer Maskenpflicht bis hin zu Testvorgaben. Ansonsten sind die Mitarbeiter an vielen Stellen selbst in der Verantwortung.
Eine Beobachtung, die auch Anette Wahl-Wachendorf, Vizepräsidentin des Verbands Deutscher Betriebs- und Werksärzte, bestätigt. Aktuell gebe es wenige Anfragen seitens der Unternehmen, was die Ausgestaltung ihrer Coronamaßnahmen angehe. „Ausnahmen bilden hierbei Großunternehmen, Unternehmen der kritischen Infrastruktur sowie Krankenhäuser und Altenheime“, sagt die Ärztin. „Dort sind die Entscheidungsträger auch jetzt sehr wachsam.“
Die allgemeine Entspanntheit verwundert die Expertin nicht. Zum einen habe die Bundesregierung mit dem Auslaufen der Arbeitsschutzverordnung ein Zeichen gesetzt, dass die Unternehmen dazu bringe Corona nun erstmal „in den Hintergrund zu drängen“. Zweitens könne sie sich vorstellen, dass viele Firmen ihr Augenmerk nun eher auf den Krieg in der Ukraine richten, weil er ihr Geschäft durch Lieferengpässe oder Absatzprobleme stärker belaste. Und drittens gingen die Unternehmen entspannter in den nächsten Coronaherbst, weil sie „mittlerweile einen gut gefüllten Instrumentenkasten haben, den sie jeder Zeit wieder auspacken können“, sagt Wahl-Wachendorf.
Damit das im Zweifel auch schnell gelingt, haben viele größere Unternehmen einen Coronakrisenstab beibehalten, der aktuell im Stand-by-Modus verharrt oder seine Treffen weiterhin fortsetzt, wenn auch in größeren zeitlichen Abständen. „Aber auch Unternehmen ohne solche Krisenstäbe diskutieren die Situation trotzdem, zum Beispiel in ihren Arbeitsschutzausschüssen“, sagt Wahl-Wachendorf. Dieses permanente Monitoring von Fallzahlen in- und außerhalb des Betriebs, von Büroauslastungen und Krankschreibungen ist ein wichtiges Mittel, um Herr der Lage zu bleiben.
Beim Chemiekonzern BASF in Ludwigshafen etwa können Führungskräfte „eigenverantwortlich wieder strengere Regeln für ihre Einheiten festlegen“, wo es notwendig ist, sagt der Chief Medical Officer des Unternehmens, Christoph Oberlinner. „Zum Beispiel, wenn im Rahmen von großen Anlagenabstellungen unterschiedliche Teams intensiv zusammenarbeiten oder wenn die Infektionen in einer Einheit zunehmen und dadurch die Einhaltung einer Mindestschichtbesetzung in den Betrieben gefährdet wäre“, erklärt der Experte.
Impfungen vorbereiten
Der Maschinenbauer Heidelberger Druck prüft derzeit größere Veranstaltungen, die eigentlich für November oder Dezember geplant waren, in die Monate September und Oktober vorzuverlegen, da in dieser Zeit noch mit niedrigeren Fallzahlen gerechnet wird. Außerdem hat das Unternehmen Pläne erstellt, wie es innerhalb kurzer Zeit ein betriebliches Impfzentrum öffnen kann.
Corona-Variante BA.5
Die zunehmenden Corona-Infektionszahlen haben laut Experten mehrere Gründe:
Zum einen ist da der Omikron-Subtyp BA.5, der in Deutschland stetig zulegt. „Die Untervariante BA.5 ist noch ansteckungsfähiger als alle Varianten zuvor, kann sich also auch unter den für das Virus widrigen Bedingungen im Sommer verbreiten“, erklärt Epidemiologe Timo Ulrichs von der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin. Zudem könne BA.5 nach derzeitigem Kenntnisstand dem Immunsystem entwischen, selbst wenn es schon Kontakt zu Omikron-Varianten hatte, mahnt er. Auch vollständig Geimpfte seien nicht vor einer Infektion gefeit.
Auf der anderen Seite steht ein verändertes Verhalten der Menschen. Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen verweist vor dem Hintergrund gefallener Corona-Beschränkungen auf höhere Mobilität und mehr Kontakte – und das bei deutlich geringerem Schutzverhalten wie Maskentragen. Auch die nun bei vielen länger zurückliegende Impfung spiele eine Rolle: „Die Immunität hat im Schnitt abgenommen“, so Zeeb.
Auch wenn die Zahlen Wachsamkeit erfordern, einen Grund zur Panik sehen die Fachleute nicht. Intensivmediziner Stefan Kluge vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf spricht momentan von einem „moderaten“ Anstieg der Infektionszahlen. Dennoch gelte es, besonders vulnerable Menschen weiterhin konsequent zu schützen.
Zeeb sagt, es werde zwar absehbar mehr Infektionen geben, da aber BA.5 nach aktuellem Kenntnisstand klinisch ähnlich verlaufe wie vorherige Omikron-Varianten, dürfte es meist bei milden Verläufen bleiben. In der Summe könne es wieder etwas mehr Hospitalisierungen und auch Todesfälle geben, wenn die Infektionszahlen deutlich ansteigen, denkt er – eine Überlastung des Gesundheitswesens steht aus seiner Sicht aber nicht bevor.
Auch Kluge befindet mit Blick auf Normal- und Intensivstationen, wegen der wohl eher milden Verläufe durch Omikron-Sublinien sei eine deutliche Belastung des Gesundheitssystems durch sie im Sommer eher unwahrscheinlich. Dennoch bedeute eine hohe Anzahl von positiven Patientinnen und Patienten auch für Normalstationen eine deutliche Mehrbelastung – insbesondere für die Pflegenden. Watzl verweist auch auf mögliche Ausfälle bei Firmen durch viele leichte Infektionen.
Mit Blick auf das individuelle Verhalten appellieren die Experten jetzt wieder an die Selbstverantwortung. In den kommenden Wochen erwartet Zeeb ein Auf und Ab der Infektionszahlen, ab Herbst und Winter aber dann auch wieder einen Anstieg der Infektionen. So müsse klar sein, „dass Corona unter uns ist, es gibt da keine Sicherheit“, betont Zeeb. Da umfassende Regulierungen weitgehend wegfielen, müsse nun jede und jeder selbst in Situationen mit vielen Menschen, insbesondere in Innenräumen und in öffentlichen Verkehrsmitteln, an Schutz mit Masken denken und auch den Impfschutz aktuell halten. Ulrichs befindet: „Ein bisschen mehr Vorsicht wäre hilfreich.“
Auch beim Versandhändler für Bürobedarf Böttcher beginnen sie bereits jetzt mit der Planung für ein neuerliches Impfangebot im Betrieb. Das habe bereits in der Vergangenheit gut funktioniert, 90 Prozent der 600 Mitarbeiter seien geimpft. „Darüber hinaus sind wir in der Lage in kürzester Zeit unsere bewährten Coronaschutzmaßnahmen, wie beispielsweise regelmäßige Testungen zu installieren“, sagt Böttcher-Vorstand Danilo Frasiak. Auch beim Energieversorger EnBW würden die nötigen Instrumentarien vorliegen – von Hygienevorgaben über regelmäßige Testmöglichkeiten bis hin zur Wiedereinführung der Maskenpflicht könne alles „jederzeit wieder in unterschiedlichen Stufen eingeführt werden.“ Aktuell kümmert sich die Corona-Taskforce des baden-württembergischen Unternehmens neben der Gefährdungsbeurteilung vor allem darum, sich für den Herbst ausreichend mit Masken, Desinfektionsmittel und Coronatests einzudecken.
Auch das ist eine Lehre aus den vergangenen Jahren, denn mit Beginn der Pandemie waren stets verfügbare Güter wie Einweghandschuhe und Desinfektionsmittel plötzlich knapp. Weitere Erkenntnisse und Entwicklungen wie die Zusammenarbeit auf Distanz oder die Digitalisierung bislang analoger Geschäftsprozesse sind mittlerweile bei den Unternehmen derart selbstverständlich, dass sie augenblicklich reaktiviert werden können. So auch beim Haushaltsgerätehersteller Miele, der je nach Situation bewährte Maßnahmen adhoc wieder einführen kann - vom „Ausdünnen der Büropräsenz“ über „Beschränkung von Meetings“ bis hin zur „Umstellung auf digitale Formate“.
Unternehmen wünschen sich Corona-Vorgaben aus Berlin
Trotz all dieser Routinen hält es Anette Wahl-Wachendorf vom Verband Deutscher Betriebs- und Werksärzte für unerlässlich, dass die Regierung auch für diesen Herbst klare Regeln formuliert und „rechtzeitig eine Arbeitsschutzverordnung erlässt, auf die sich die Unternehmen dann einstellen können“. Natürlich hätten Arbeitgeber auch ohne eine solche Verordnung die Möglichkeit in ihren Räumen Masken oder 3G wieder einzuführen, aber: „Es ist für die Unternehmen einfacher solche Beschränkungen durchzusetzen, wenn der Gesetzgeber diese vorschreibt.“ Diskussionen um das Für und Wider würden entfallen, die Mitarbeiter würden sich eher an die Vorgaben halten.
Die meisten Unternehmen unterstreichen diesen Wunsch nach einer rechtlichen Grundlage, zumal das aktuelle Infektionsschutzgesetz am 23. September ausläuft. Das Infektionsschutzgesetz müsse frühzeitig und vorausschauend angepasst werden, heißt es bei EnBW. „Andernfalls geraten die Unternehmen erneut unter Druck bei der Umsetzung“, sagt auch Ärztin Wahl-Wachendorf. Böttcher und Miele etwa wünschen sich bei den neuen Verordnungen eine stärkere Fokussierung auf die Hospitalisierungsrate. Zuletzt habe sich gezeigt, dass Coronavarianten mit mildem Verlauf, in Verbindung mit einer möglichst hohen Impfdichte und einem verantwortungsvollen Verhalten der Menschen, beherrschbar seien, heißt es beim Haushaltsgerätehersteller aus Gütersloh.
Auch die ausreichende Beschaffung von Materialien, wie FFP2-Masken, Testkits und Desinfektionsmittel wird von Seiten der Unternehmen angemahnt. Ebenso wie die Intensivierung der Impf- und Aufklärungskampagne. Wahl-Wachendorf wünscht sich vor allem eine konsistente Kommunikation der Bundesregierung, damit Unternehmer und Unternehmerinnen nicht zusätzlich verunsichert würden.
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