Zwei von fünf Frauen betroffen Das Sexismus-Problem in der deutschen Wirtschaft ist größer als vermutet

Quelle: imago images

40 Prozent der Frauen haben schon einmal herabwürdigende Kommentare wegen ihres Geschlechts gehört, nicht wenige von ihnen Schlimmeres erlebt. Eine exklusive Umfrage zeigt: Deutschlands Wirtschaft hat ein Sexismus-Problem.

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Zehn Jahre lang hat es in Alicia Lindner gearbeitet. In dieser Zeit hat sie ihren Partner kennengelernt, mit ihm drei Kinder bekommen – und es zur geschäftsführenden Gesellschafterin eines Unternehmens für Naturkosmetik gebracht. Und doch hat sie diese Situation aus dem Jahr 2012 nie losgelassen. Sie war damals bei einem Kundentermin mit vier Männern. Ein Kunde fragte sie, wo sie wohne. Sie sagte: In Süddeutschland. Der Kunde war begeistert – und meinte: „Da habe ich noch keine Gelegenheitsfreundin. Mit Ihnen gehe ich mal äh... Abendessen.“ Es folgte: allgemeines Gelächter unter den Männern.

Alicia Lindner hat sich seitdem immer wieder gefragt, warum niemand etwas gesagt hat. Und warum ihr selbst nichts eingefallen ist. „Eigentlich müsste ich da drüberstehen“, sagt die heute 33-Jährige, die gemeinsam mit ihrem Bruder das Unternehmen Annemarie Börlind & Dado Sens führt, rückblickend. „Es ärgert mich maßlos, dass das noch so eine Macht über mich hat.“ Um das endlich zu ändern, entschloss sich Lindner, an die Öffentlichkeit zu gehen. In einem Beitrag auf dem Netzwerk LinkedIn schilderte sie kürzlich ihr Erlebnis von damals.

Und auch ihre Lehre daraus: Ein Kunde, der kürzlich eine ihrer Kolleginnen ein „hübsches kleines Mäuschen“ genannt hat, sei inzwischen kein Kunde mehr. Und Lindner hat in dem Post gefragt, wer schon einmal etwas ähnliches erlebt hat. „Meine Hoffnung ist, dass es nur wenige Fälle von Sexismus im Alltag gibt“, sagt sie. „Aber mein Gefühl ist, dass das unheimlich verbreitet ist.“ Schon die vielen Reaktionen auf den Beitrag schienen ihr Recht zu geben.

20 Prozent haben Belästigungen miterlebt

Nun zeigt eine Umfrage unter 2500 Frauen, die das Meinungsforschungsinstitut Civey für die WirtschaftsWoche organisiert hat, dass das Problem vielleicht sogar noch größer ist, als Lindner fürchtete. Etwa jede zehnte Frauen im Alter zwischen 18 und 70 Jahren fühlt sich demnach an ihrem Arbeitsplatz körperlich sowie emotional nicht sicher. Und dieses Gefühl, so scheint es, speist sich vor allem aus Erfahrungen, wie sie auch Alicia Lindner gemacht hat: Gut 40 Prozent der erwerbstätigen Frauen haben schon einmal herabwürdigende Kommentare aufgrund des Geschlechts gehört. Mehr als jede fünfte Frau ist bereits Zeugin von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz geworden. Und jede vierte Frau wurde bereits einmal selbst am Arbeitsplatz sexuell belästigt.

In der Umfrage wurde keine Definition von sexueller Belästigung vorgegeben. Die Antwort sagt also nicht eindeutig aus, ob es sich dabei um einen blöden Spruch oder einen körperlichen Übergriff handelte, sondern vor allem, dass die Situation als eine Belästigung wahrgenommen wurde. Lindner glaubt, dass der Unterschied zwischen einem charmanten Kompliment und einem herabwürdigenden Spruch für die betroffenen Frauen stets zweifelsfrei erkennbar sei. Aber für die, die dies aussprechen, nicht. Sie fragt sich: „Warum ist die Wahrnehmung manchmal so unterschiedlich?“

Unter ihrem Aufruf bei LinkedIn berichtet eine Oberärztin, wie ihr damaliger Chefarzt, als sie gerade von einer Herzimplantation kam, zu seinem Kollegen meinte: „Ach, lassen Sie jetzt auch schon Frauen operieren?“ Eine Unternehmensberaterin erinnert sich, wie ein Kollege, als sie sich an den Arbeitsplatz eines Mandanten gesetzt hatte, um ihm etwas zu erklären, kommentierte: „Wenn du jetzt nicht sprechen würdest, hätte ich gedacht, du machst den Kollegen unter dem Tisch gerade eine große Freude“. Eine Frau erzählt, dass ein Mann, dem sie auf einer beruflichen Veranstaltung fünf Minuten zuvor vorgestellt worden war, sie anderen kurz darauf als seine Ehefrau vorstellte. Und eine andere Frau erinnert sich daran, wie ihr Chef nach einem langen Arbeitstag ihre Hand ergriff, ihr tief in die Augen blickte – und sagte: „Mit dir kann ich mir alles vorstellen“.

Scham statt Gegenangriff

10.000 Likes und 1200 Kommentare sind unter Lindners Beitrag bei LinkedIn gelandet. Die Unternehmerin hat mehr als 60 Nachrichten via LinkedIn erhalten, viele weitere über andere Kanäle. Sie weiß von vielen Frauen, die in dem Moment, in dem jemand übergriffig wird, sprachlos sind, sich schämen – und sich jahrelang Sätze zurechtlegen, die sie hätten sagen sollen. So wie sie einst selbst.



„Es geht mir um eines: Menschen müssen verstehen, was Sexismus im Job mit den Opfern macht“, sagt sie. Viele Männer und auch einige Frauen, davon ist sie überzeugt, wüssten schlichtweg nicht, wie es sich anfühlt, erniedrigt zu werden. „Wir müssen ihnen die Chance geben, das zu verstehen.“

Es komme darauf an, wer wann was sagt – und auch: wie. Und doch, betont Lindern, gebe es da durchaus ein paar Regeln, an denen man sich im Zweifelsfall orientieren könne. „Ein Kompliment macht mich größer, ein blöder Spruch kleiner.“ Sie empfiehlt, eine einfache Frage als Korrekturschleife einzuziehen, ehe man den Mund auf mache: Sage ich das zu jemandem, der in der Hierarchie über oder unter mir steht? „Der Chefin“, betont Lindner, „würde man wohl eher nicht sagen, dass der enge Rock die Sitzung erfolgreicher werden lässt.“ Und schließlich gebe es ein paar Wörter, die man einfach streichen könne. „Das Wort ,heiß‘ zum Beispiel, das ist nie, nie, nie angebracht.“

Wer sich einen Spruch anhören müsse, entscheide darüber, ob das in Ordnung ist – oder nicht. Nicht umgekehrt.

Einfach mal eskalieren lassen

Viele Frauen sind, wenn sie später daran denken, wie der Kollege die Hand auf ihr Knie gelegt oder ihnen vor versammelter Mannschaft ein zweifelhaftes Kompliment gemacht hat, schockiert, dass sie selbst nichts gesagt haben – aber auch, dass ihnen keiner geholfen hat.

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So ging es auch Alicia Lindner. Sie weiß von Frauen, die nicht mehr zur Weihnachtsfeier gehen, weil sie ahnen, dass ein bestimmter Kollege sie dort wieder anbaggern wird. Und von Frauen, die nur noch Hosen statt Röcke tragen, weil sie die Sprüche zu ihren langen Beinen leid sind. „Viele wollen lieber so tun, als wäre es nicht so schlimm, bevor sie als zickig gelten“, sagt Lindner. Dabei könne es unheimlich befreiend sein, die Situation auch mal bewusst eskalieren zu lassen.

Das Schweigen über das schmierige Angebot ihres damaligen Kunden hat Alicia Lindner gebrochen. Nicht nur mit dem LinkedIn-Post. Sie hat dem Mann auch noch persönlich geschrieben. Ihn wissen lassen, dass ihr die Situation lange in den Knochen steckte und sie sich wünsche, dass er Frauen heute mit mehr Respekt begegne. Eine Antwort hat sie nicht erhalten. „Ich erwarte auch nichts“, sagt Lindner. Nach zehn Jahren ist sie zu dem Schluss gekommen: „Das ist nicht mein Thema, das ist sein Thema.“

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