




Man muss nun wahrlich nicht Präsident des Hochschulverbandes sein, um das Problem zu erkennen: An den Hochschulen grassiert mit beängstigender Dynamik eine Inflation der Noten. Ein „Summa cum Laude“ („Mit höchstem Lob“) für die Doktor-Arbeit ist längst nicht mehr die seltene Auszeichnung für das hochbegabte Genie, das es einst war. Und „Magna cum Laude“, eigentlich als eine glatte „Eins“ gedacht, ist schon das Mindeste für einen Promovenden, wenn er nicht blamiert dastehen soll.
Vor den Folgen dieser Entwertung warnten vereinzelte Professoren und Publizisten schon seit Jahren, als die Entwertung noch nicht die absurden Ausmaße der Gegenwart angenommen hatte. Sie blieben von Bildungspolitikern und -funktionären ungehört. Nun hat endlich Hochschulverbandspräsident Bernhard Kempen das Problem aufgenommen. Zur Entschuldigung für diese Verspätung mag man anführen, dass in seinem Fach, der Rechtswissenschaft, die Inflation seltsamerweise nicht oder kaum stattfindet.
Die Inflation beginnt natürlich nicht erst mit den Klausuren der Universitäten. Dort setzt sich ein Wahnsinn mit Methode fort, der in den Schulen beginnt.
Können Sie diese PISA-Aufgaben lösen?
An Manuelas Schule führt der Physiklehrer Tests durch, bei denen 100 Punkte zu erreichen sind. Manuela hat bei ihren ersten vier Physiktests durchschnittlich 60 Punkte erreicht. Beim fünften Test erreichte sie 80 Punkte. Was ist Manuelas Punktedurchschnitt in Physik nach allen fünf Tests?
a) 64 Punkte
b) 72 Punkte
c) 68 Punkte
Fünf Seiten eines Würfels von drei Zentimetern Kantenlänge werden rot angestrichen, die sechste Fläche bleibt ohne Anstrich. Wie viel Prozent der Würfeloberfläche sind rot?
a) Etwa 60 Prozent
b) Etwa 83 Prozent
Wie tief ist der Tschadsee heute?
a) Etwa 15 Meter
b) Etwa fünfzig Meter
c) Etwa zwei Meter
Wie verändert sich das Gewicht auf der Waage wenn man beim Wiegen schwungvoll in die Knie geht?
a) Es ändert sich gar nichts an der Gewichtsangabe
b) Das Gewicht wird für diesen Moment höher angezeigt
c) Das Gewicht wird kurzzeitig geringer angezeigt
Die Temperatur im Grand Canyon reicht von unter 0 Grad bis über 40 Grad. Obwohl es sich um eine Wüstengegend handelt, gibt es in einigen Felsspalten Wasser. Wie beschleunigen diese Temperaturschwankungen und das Wasser in den Felsspalten die Zersetzung des Gesteins?
a) Gefrierendes Wasser dehnt sich in Felsspalten aus
b) Gefrierendes Wasser löst warmes Gestein auf
c) Wasser kittet Gestein zusammen
Wie wirkt es sich aus, wenn Sie eine dunkle Sonnenbrille ohne UV-Schutz tragen?
a) Es gelangen mehr UV-Strahlen ins Auge als ohne Brille.
b) Es gelangen weniger UV-Strahlen ins Auge als ohne Brille.
c) Es gelangen genau so viele UV-Strahlen ins Auge wie ohne Brille.
Frage 1: a
Frage 2: b
Frage 3: c
Frage 4: c
Frage 5: a
Frage 6: a
Kempen weist den verbreiteten Begriff „Akademisierungswahn“ zurück. Er muss schließlich denen unter die Augen treten, die dafür in erster Linie verantwortlich sind: Die Bildungspolitiker. Man kann in diesem Fall allerdings durchaus von einem Wahn sprechen. Spätestens seit dem so genannten PISA-Schock von 2000 sucht die deutsche Bildungspolitik weitestgehend einhellig das Heil in immer weiter geöffneten Toren der Hochschulen. Die Erhöhung des Anteils der Abiturienten und der Zugangszahlen zu den Universitäten wurde – in folgsamer Hörigkeit gegenüber der OECD – mit erfolgreicher Bildungspolitik verwechselt. Für Politiker ist es stets bequem, den scheinbaren Erfolg mit Statistiken zu belegen.
Lehrer werden korrumpiert
Mehr Kinder mussten also zum Abitur geführt werden. Bildungspolitiker – in Nordrhein-Westfalen ist man hier besonders hemmungslos – garnieren das gerne noch mit der kümmerkitschigen Botschaft: „Kein Kind darf zurückbleiben“. In der Praxis ist das verführerisch einfach zu schaffen, denn das Kriterium fürs Scheitern bestimmen dieselben, die das Scheitern abschaffen wollen. Wer kann da schon widerstehen.
Die Ministerialbürokratie macht also auf höchsten Wunsch hin ihren Lehrern in kaum verklausulierter Weise deutlich, dass Schüler nicht durch schlechte Noten „demotiviert“ werden sollen. Die kommen diesem Wunsch umso lieber nach, als jedes „mangelhaft“ (die Note „ungenügend“ ist ohnehin so gut wie abgeschafft) für den benotenden Lehrer höchst arbeitsintensive Förder-Aktivitäten nach sich zieht.
Was Schüler in der neunten Klasse können sollen
Es ging um die Leistungen in Mathematik und Naturwissenschaften (Biologie, Chemie, Physik) – und zwar über alle Schulformen hinweg. In Mathematik wurden sechs Kompetenzformen aus dem gesamten Spektrum mathematischen Arbeitens untersucht, wie „Probleme mathematisch lösen“ aber auch „Raum und Form“ sowie „Daten und Zufall“. In den Naturwissenschaften ging es vor allem um Grundbildung, aber auch um fachübergreifendes Problemlösen.
Die Aufgaben wurden auf der Grundlage der von den Kultusministern für alle Bundesländern verbindlich eingeführten Bildungsstandards für diese Fächer entwickelt – unter Mitwirkung von Schulpraktikern. Bildungsstandards beschreiben, was ein Schüler am Ende einer Jahrgangsstufe können soll. Sie gelten für Lehrer als pädagogische Zielvorgabe und haben damit die zuvor in allen Bundesländern unterschiedlichen Lehrpläne abgelöst.
Die Untersuchung fand vormittags in der Schule statt und dauerte jeweils etwa dreieinhalb Zeitstunden (inklusive Pausen). Hinzu kamen anschließend Interviews mit Schülern, Fachlehrern und Schulleiter über die Lernbedingungen.
Der „Klassiker“ ist die weltweite PISA-Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Des weiteren gibt es noch die internationale IGLU-Grundschulstudie und die internationale TIMSS-Untersuchung mit den Schwerpunkten Mathematik und Naturwissenschaften – sowohl für die Grundschule als auch für die achten Klassen. Allerdings haben die Kultusminister bei PISA und IGLU die zuvor üblichen Bundesländervergleiche gestoppt. Deutschland macht zwar bei den internationalen Studien weiter mit, aber nur noch mit einer kleineren nationalen Stichprobe – etwa 5000. Dies ermöglicht kein Bundesländer-Ranking.
Darüber lässt sich nur spekulieren: Die Kultusminister können die politisch brisanten Bundesländervergleiche auf der Basis ihrer eigenen vereinbarten Bildungsstandards sicherlich besser steuern. Auch das IQB arbeitet im Auftrag der Kultusministerkonferenz. Zuvor war es vor allem mit den internationalen PISA-Forschern der OECD wegen der ungünstigen deutschen Chancengleichheitswerte und der Schulstrukturfrage immer wieder zu Konflikten bei der Interpretation von Daten gekommen.
Überraschend ist, dass neben allen ostdeutschen Ländern diesmal aus dem Westen nur Bayern und Rheinland-Pfalz durchgängig gut abschneiden. Mathematik und Naturwissenschaften waren eine Domäne der DDR-Schulen. Auf die Fachlehrerausbildung legte man hier besonderen Wert. Auch spielen die Naturwissenschaften auf den Stundentafeln der ostdeutschen Schulen heute noch eine größere Rolle als im Westen.
Die Studie belegt erneut die erschreckend hohe Abhängigkeit von Bildungserfolg und sozialer Herkunft in Deutschland. Neuntklässler aus der Oberschicht haben gegenüber Gleichaltrigen aus bildungsfernen Schichten einen Lernvorsprung in Mathematik von fast drei Schuljahren.
Bildungsexperten raten seit Jahren, nicht ganze Bundesländer miteinander zu vergleichen, sondern besser Regionen mit ähnlichen Wirtschaftsstrukturen und Problemlagen. Also etwa Berlin mit dem Ruhrgebiet, wegen der hohen Ausländerquoten unter den Schülern, oder ländliche Gebiete im Osten Deutschlands mit denen im Westen, wegen Abwanderung und Bevölkerungsrückgang.
Die Folge ist ein Anstieg der Abiturientenzahlen und ihrer Durchschnittsnoten. Dass diese nichts mit besseren Unterrichtsmethoden oder anderen pädagogischen Erfolgen zu tun haben, liegt nicht nur für die Professoren auf der Hand, bei denen die neuen Abiturienten dann verständnislos in der Vorlesung sitzen. „Oft müssen die Universitäten den Unterricht der Oberstufe nachholen“, sagt Kempen.