Best Practice als Falle "Viele Chefs folgen blind der Masse"

Organisationsberater und Coaches sind die falsche Orientierung. Quelle: Getty Images

Wenn alle Unternehmen dieselben Beratertipps befolgen, kann aus Best Practice auch Worst Practice werden. Managementforscher Freek Vermeulen sagt deshalb: Unternehmen sollten besser wieder eigene Wege gehen.

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Ein Kickertisch im Büro erhöht den Teamgeist, Großraumbüros verbessern die Kommunikation, flache Hierarchien steigern die Motivation, Brainstormings fördern frische Ideen zutage – und wer künftig noch talentierte Mitarbeiter anlocken will, sollte auf flexibles Arbeiten setzen. Organisationsberater und Coaches orientieren sich an Erfolgsgeschichten und verteilen ihre Best-Practice-Tipps wie mit der Gießkanne. Die Folge: Viele Unternehmen folgen denselben Ansätzen. Freek Vermeulen, Professor für Strategie und Unternehmertum an der London Business School, empfiehlt Managern in seinem Buch „Breaking Bad Habits“, genauer hinzusehen. Denn Innovation und Erfolg entstünden aus dem Mut zum Anderssein.

WirtschaftsWoche: Professor Vermeulen, in Ihrem neuen Buch warnen Sie Manager davor, erfolgreiche Strategien anderer Unternehmen zu kopieren. Was ist daran verwerflich, von der Konkurrenz lernen zu wollen?
Freek Vermeulen: Erst mal gar nichts. Das Problem ist bloß, dass Manager Strategien oder Verhaltensweisen oft weitgehend ungeprüft übernehmen – ohne darauf zu achten, ob diese in ihrem jeweiligen Kontext überhaupt sinnvoll sind. Berater müssen etwas nur als Best Practice deklarieren, und schon lassen sich alle davon inspirieren. Das kann sich böse rächen. Natürlich kann es sinnvoll sein, vom Wettbewerb zu lernen. Aber eben längst nicht immer.

So wie im Falle von Großraumbüros. Internetkonzerne wie Google und Facebook haben damit angefangen, inzwischen gelten offene Büros auf der ganzen Welt als Standard – obwohl viele Studien zeigen, dass Mitarbeiter dort öfter abgelenkt werden.
Ja, das ist ein gutes Beispiel. Auch bei diesem Thema folgen viele Manager einfach der Masse, ohne sich vorher zu fragen: Sind offene Büros eigentlich wirklich besser? Passen sie überhaupt zu unserer Arbeitsweise – oder haben Einzel- oder zumindest Doppelzimmer nicht auch ihre Berechtigung?

Freek Vermeulen ist außerordentlicher Professor an der London Business School und Autor mehrerer Bücher. Für seine Aufsätze und Lehrmethoden wurde der Niederländer mehrfach ausgezeichnet. Quelle: Julian Anderson für WirtschaftsWoche

Woher kommt diese Best-Practice-Gläubigkeit?
Der Haupttreiber ist Unsicherheit. Die Globalisierung und die Internationalisierung führen dazu, dass viele Geschäftsmodelle heute extrem komplex sind. Oft ist es vorab sehr schwierig, zu beurteilen, ob eine bestimmte Strategie zum Erfolg führt oder nicht. Top-Manager schauen sich daher gerne andere erfolgreiche Unternehmen in ihrer Branche an. Welche Funktionen und Features bieten diese bei einem bestimmten Produkt an? Auf welchen Märkten sind sie aktiv? Wie organisieren sie sich?

Klassisches Benchmarking, würde der BWLer sagen.
Genau. Und nach dieser Analyse entscheiden sich viele Führungskräfte dann für eine ganz ähnliche Strategie.

Warum auch nicht? Wenn diese Strategien sich bewährt haben.
Sehen Sie, genau das denkt sich ein CEO auch. Irgendwann gelten manche Vorgehensweisen in einer Branche dann schlicht als Tradition und werden nicht mehr hinterfragt. Gerade in sich schnell wandelnden Industrien fürchten viele Manager außerdem, sie könnten sonst einen wichtigen Trend verpassen. Und: Benchmarking nimmt sie aus der Verantwortung. Wer den gleichen Fehler macht wie alle anderen, kann das bei der nächsten Hauptversammlung noch irgendwie rechtfertigen. Wer dagegen seinen eigenen Weg geht und scheitert, muss sich im Zweifelsfall einen neuen Job suchen.

Letztlich sind nicht nur Manager daran schuld, dass sie so oft auf vermeintliche Erfolgsmodelle reinfallen – sondern auch die Aufsichtsräte und Aktionäre?
Absolut. Wer in der Wirtschaft nicht mit dem sprichwörtlichen Strom schwimmt, muss immer mit viel Widerstand rechnen. Manchmal spielen dabei auch die Kunden und Konsumenten eine wichtige Rolle. Ein Beispiel dafür ist ISO2000.

Bitte was?
Vereinfacht gesagt, handelt es sich um eine internationale Qualitätsnorm im IT-Bereich. Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass diese Standardisierung Nachteile hat. Sie hilft zwar dabei, bestehende Prozesse bis zur Perfektion zu verbessern. Gleichzeitig erschwert sie es Mitarbeitern aber, neue Dinge auszuprobieren. Trotzdem gibt es kaum ein Unternehmen, das auf diese Norm verzichtet – auch weil die meisten Kunden sie für eine Geschäftsbeziehung voraussetzen. Wer sich nicht daran hält, gilt schnell als unprofessionell.

Wie kann es sein, dass sich solche schädlichen Maßnahmen überhaupt durchsetzen?
Ein Grund kann sein, dass bestimmte Strategien das Unternehmen kurzfristig voranbringen und erst in der langen Frist Schaden anrichten. Ursache und Wirkung – oder wissenschaftlich formuliert: Korrelation und Kausalität – sind dann oft schwer zuzuordnen. Wie eben bei ISO2000. Unternehmen merken zwar, dass sie sich mit Innovationen schwertun, erkennen aber nicht, dass ihre Qualitätsnorm daran schuld ist. Außerdem kommt noch dazu: Manche Best-Practice-Methoden sind ursprünglich sinnvoll. Aber wenn sie auf falsche Zielgruppen übertragen werden, richten sie Schaden an.

"Sprechen Sie mit Mitarbeitern und Kunden"

Können Sie ein Beispiel nennen?
Fluggesellschaften gingen lange davon aus, dass jeder Passagier beim Flug drei Mahlzeiten essen will. Dann traute sich die US-Fluglinie Southwest Airlines in den Siebzigerjahren, die Mahlzeiten abzuschaffen. Der Konzern wollte damit vor allem Kosten sparen, um die Kernleistung – den Flug – so günstig wie möglich anbieten zu können. Und plötzlich fiel auf, dass viele Passagiere gern auf Essen verzichten und dafür lieber günstiger fliegen. Diese Zielgruppe hatten die Fluggesellschaften vorher komplett ignoriert. Und dann wiederum gibt es Best-Practice-Methoden, die schlicht zu lange beibehalten werden.

Zum Beispiel?
Anfang des 18. Jahrhunderts wurden Zeitungsverlage nach Seitenzahl besteuert, deshalb druckten sie ihre Produkte auf extragroße Seiten. Das ist oft bis heute so – obwohl diese Steuer längst nicht mehr existiert. Und, schlimmer noch: obwohl dieses Format wahnsinnig unpraktisch ist.

Aber eigentlich müssten sich solche Probleme doch von selbst lösen: Unternehmen, die sich von vermeintlich fatalen Best-Practice-Ansätzen blenden lassen, gehen irgendwann unter.
Ein schwacher Trost, oder? Man kann sich das vorstellen wie bei einem Virus. Warum ist es noch nicht ausgestorben? Weil es so langsam wirkt, dass sich zwischendurch immer noch ein paar Leute anstecken. So existiert das Virus immer weiter. Bei Best-Practice-Methoden funktioniert die Ansteckung genauso – durch Kontakte zwischen Unternehmen. CEOs wechseln regelmäßig ihren Job oder treffen sich bei Kongressen, Aufsichtsräte betreuen oft mehrere Firmen parallel, Strategieberater springen von einem Projekt zum nächsten ...

... aber bei diesem Austausch müssen die Manager doch merken, dass Best-Practice-Methoden nicht überall gleich gut funktionieren.
In aller Regel wird aber deutlich mehr über jene Fälle geredet, in denen eine Best-Practice-Methode gut funktioniert. Probleme behält man lieber für sich. Dadurch kann der Erfolgsmythos überleben. Allerdings haben die Unternehmen, anders als bei tödlichen Krankheiten, durchaus die Wahl: Wer gut aufpasst, muss sich nicht infizieren lassen oder kann den „Virus“ allein wieder loswerden.

Wie können sich Unternehmen schützen?
Es gibt da einen ganz simplen Trick: Sprechen Sie mit Mitarbeitern und Kunden. Die merken in der Regel am ehesten, wenn eine Best-Practice-Methode schädliche Folgen hat – etwa, weil sie wegen ISO2000 innovative Ideen nicht mehr umsetzen können. Vor allem aber geht es darum, ein Bewusstsein für das Problem zu schaffen. Manager sollten nicht einfach der Masse folgen, sondern sich bei sogenannten Best-Practice-Methoden stets die Frage stellen: Ist das wirklich sinnvoll – oder gibt es eine bessere Alternative? Ich nenne das Reverse Benchmarking. Man hält Ausschau nach Dingen, die alle Konkurrenten ohne triftigen Grund gleich machen – und macht es dann anders. Das allein kann schon eine Innovation sein.

Diese sechs Faktoren führen Unternehmen zum Erfolg

Das kann sich aber rächen, wenn man damit Kunden verschreckt.
Ja, für solche Innovationen braucht es unternehmerischen Mut. Aber wer sich in der Best-Practice-Masse versteckt, läuft eben Gefahr, mit allen anderen zu stagnieren. Und natürlich sollte man seine Annahmen vorher testen. Der britische „Independent“ war im Jahr 2004 die erste renommierte Zeitung, die auf ein kleineres Format umstellte. Zuvor ließ der damalige Herausgeber Simon Kelner in Manchester und London eine Zeit lang beide Formate verkaufen, mit gleichem Inhalt zum gleichen Preis. Dadurch wusste er, dass sich das kleinere Format sogar besser verkaufte. Übrigens lässt sich von diesem Beispiel noch etwas anderes lernen …

Nämlich?
Als der „Independent“ sich dazu entschloss, stand er kurz vor der Pleite. Er hatte also wenig zu verlieren. Anstatt nur erfolgreiche Wettbewerber zu beobachten, sollte man auch scheiternde Konkurrenten im Blick behalten. Dort entsteht radikaler Wandel am ehesten.

Und wenn man selbst gerade nicht vor der Pleite steht: Wie schafft man es, die Beteiligten vom eigenen Weg zu überzeugen?
Das ist in der Tat eine Herausforderung – vor allem bei börsennotierten Unternehmen, bei denen kurzfristige Ziele zählen. Manager müssen ihren Plan vor allem so gut wie möglich erklären: Warum lohnt es sich, einen anderen Weg zu gehen? Was unterscheidet uns von den Wettbewerbern? Zudem sollten sie ständigen Wandel fördern – etwa indem sie ihre Projektteams regelmäßig mischen oder ausgefallene Funktionen testen. Wer Veränderungen und auch mal ein Scheitern gewohnt ist, neigt viel weniger dazu, krampfhaft an vermeintlichen Best-Practice-Ansätzen festzuhalten.

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