Wie schmal dieser Grat ist, zeigt ein Blick ins Jahr 1971. Damals begleitete der Psychologe Philip Zimbardo von der kalifornischen Eliteuniversität Stanford 24 Studenten in einen Kellerraum. Für einen Versuch hatte er dort ein Gefängnis rekonstruiert. Nach dem Zufallsprinzip teilte Zimbardo die Freiwilligen in Aufseher und Häftlinge ein. Die Wärter bekamen Uniformen und Schlagstöcke, die Häftlinge wurden in Einzelzellen gepfercht, zogen sich einen Kittel über den Körper, Ketten an die Füße, einen Nylonstrumpf über den Kopf. Zimbardo filmte mit versteckter Kamera – und dokumentierte eine Tour des Grauens.
Nach zwei Tagen fingen die Wärter aus eigenem Antrieb und grundlos an, den Schlaf der Gefangenen zu stören, ihnen das Essen zu verweigern und sie zu beschimpfen. Die Insassen blockierten daraufhin die Türen, die Aufseher wiederum sprühten mit Feuerlöschern eisiges Kohlendioxid in die Zellen, nahmen den Gefangenen Kleidung und Betten weg und verweigerten ihnen nach 22 Uhr den Gang zur Toilette. Nach wenigen Tagen brach Psychologe Zimbardo den Versuch ab, der als „Stanford Prison Experiment“ in die Fachliteratur einging und später auch als Film-Vorlage diente („Das Experiment“). Zimbardos beängstigendes Fazit: Das Böse sei in jedem Menschen verankert – es liege bloß an unserer Umgebung, ob es ans Tageslicht kommt oder nicht.
Nicht gleich ein Sadist
Natürlich wird nicht jeder Vorstandsvorsitzende gleich zum Sadisten. Aber der eine oder andere kommt solch charakterlicher Deformation schon recht nah: Glaubt man Insidern, führte etwa der einstige Klinik-König Ulrich Marseille in seinem Unternehmen bisweilen diktatorisch Regime. Fehler tolerierte er nicht, Führungskräfte stauchte er in Besprechungen öffentlich zusammen – so lange, bis auch gestandene Personen zu weinen begannen.
„Macht“, sagt der deutsche Hirnforscher Gerhard Roth, „ist ein größerer Verführer als Geld oder Sex.“
Schleichender Prozess
Wie so oft beginnt auch dieser Prozess schleichend: „Menschen mit Macht können besser lügen“, sagt Managementprofessorin Dana Carney. Sie hat in Experimenten festgestellt, dass Versuchspersonen mit geliehener Macht nicht nur häufiger flunkerten. Bei ihnen hinterließ das Lügen außerdem weder emotionale noch körperliche Reaktionen. Chefs logen, ohne rot zu werden.
Was passiert, wenn Menschen Macht über andere verliehen bekommen, wies US-Psychologin Deborah Gruenfeld in ihrem legendären Kekstest nach: Die Wissenschaftlerin von der Stanford-Universität ließ mehrere Studentengruppen über Politik und Religion diskutieren. Einer der Probanden sollte die Aussagen der Kommilitonen beurteilen. Mit anderen Worten: Er bekam eine Prise Macht geliehen.