Reportage Der Hund weiß am besten, wer ein Chef ist

Management: So kann man Führungsqualitäten lernen Quelle: WirtschaftsWoche Online

Wer Chef ist, kann führen – ein weitverbreiteter Irrglaube. Bei einem Seminar sollen Führungskräfte Schafe um eine Wiese treiben. Ein Hund ist an diesem Tag der ehrlichste Mitarbeiter, den sie je haben werden.

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Schäfer Daniel Kley sitzt heute mal im Trockenen. Mit Wollsocken an den Füßen steht er auf dem Linoleumboden seines Wohnzimmers und stützt die Hände auf die Fensterbank. Er beobachtet einen Mann, der dort auf der Wiese im Regen steht. Der Mann trägt schwarze Stiefeletten, einen vom Regen glänzenden schwarzen Wollmantel und ein Headset auf dem Kopf. Während er von Schafen umringt wird, redet er wild gestikulierend auf den Hund ein, der etwas desinteressiert vor ihm steht. Daniel Kley schaut sich das Schauspiel eine Weile lang an. Dann greift zum Handy: „Kannst du nicht energischer werden? Stell dir vor, jemand ignoriert dich bei der Arbeit!“

Der Mann auf der Wiese vor Daniel Kleys Wohnzimmerfenster hat mit Schafen eigentlich nichts am Hut. Die manchmal störrischen Tiere sollen ihm nur dabei helfen, ein besserer Chef zu werden. „Servant Leadership – Führungskräfteseminar mit Schafen“, heißt das Angebot der Nordeck IT&Consulting GmbH, für die Kley und seine Kollegin Sandra Wilmsmann im Einsatz sind. Die Teilnehmer tauschen dabei ihr Büro gegen die Wiese im 609-Einwohner-Dorf Hörup in Schleswig-Holstein.

Schafe blöken im Hintergrund, das Gras riecht regennass. Die Teilnehmer müssen nur einen einzigen Mitarbeiter führen – und das ist Hund Johnny. Von ihm hängt ab, ob die Schafe den richtigen Weg gehen. Johnny aber hört nur auf denjenigen, der ihn versteht. „Ein Hund zeigt unmissverständlich, was er von der Führung des Teilnehmers hält“, sagt Führungskräfte-Trainerin Sandra Wilmsmann. Sie hilft den Seminarteilnehmern, aus der Reaktion des Hundes die richtigen Schlüsse für ihren Berufsalltag zu ziehen.

Wie Manager Führung auf der Weide lernen

Es gehe darum, klar zu zeigen, was der Hund tun soll, ohne die restliche Herde – also die restlichen Mitarbeiter – aus den Augen zu lassen. Hat der Hund keine Lust zu hören, tut er es nicht. Mitarbeiter im Büro zeigen oft nicht, wenn sie sich missverstanden oder gar schlecht behandelt fühlen. „Viele belächeln dieses Coaching mit Schafen zwar“, sagt Wilmsmann. „Aber die Teilnehmer finden in dem Hund häufig den ehrlichsten Mitarbeiter, den sie je hatten.“

Heute nehmen René Vierkorn und sein jüngerer Kollege Florian Krockert auf einem der mit Lammfell bedeckten Sofas in Daniel Kleys Wohnzimmer Platz. Vierkorn trägt heute Pullover statt Hemd und eine alte Jeans, seine kurzen Haare hängen ihm platt in die Stirn. „Ich bin 44 Jahre alt, seit 25 Jahren verheiratet, hatte verschiedene Firmen. Meine aktuelle Firma möchte Werte in die Gesellschaft bringen, nicht schwätzen, sondern vorleben“, stellt er sich selbst vor. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem Schäfer Kley den Tagesablauf vorstellt.

Doch dazu kommt er gar nicht. René Vierkorn, der heute wie alle anderem geduzt wird, löchert ihn mit Fragen nach Rasse und Anzahl der Schafe und vielem mehr statt zuzuhören. Vierkorn ist Gründer und Leiter der Berliner Freedom Manufaktur, einem Softwarehersteller. Er sieht sich aber selbst nicht als Chef. Alle im Unternehmen seien Berater füreinander. Sein Kollege Florian Krockert sagt: „Ich führe auch ein bisschen.“ Da zieht Wilmsmann schon die Brauen hoch.

Hof-und Schafbesitzer Kley steht in der Mitte des Wohnzimmers und deutet auf ein Plakat. Es zeigt einen Mann, der „Halt!“ ruft und einen Hund, der stehen bleibt – so müsse es laufen, erklärt Kley. „Habt ihr den Hund im Griff, wird er anhalten.“

Wer eine Herde Schafe anleiten möchte, muss immer vorangehen. Der Hund treibt die Schafe mithilfe der richtigen Stimmkommandos dorthin, wo der Schäfer es möchte. „Meine Mission also: Johnny im Griff haben“, sagt René motiviert und kneift die kleinen Augen zusammen. „Diese Euphorie ist typisch“, sagt Sandra Wilmsmann. „Mal sehen, was der Hund damit macht.“

„Soll ich den Hund etwa anbrüllen?“

Mit Johnny und 15 Schafen vor der Nase geht es an den Praxisteil. Haben Florian und René verstanden, wie der Hund geführt werden muss?

„Johnny, komm“, sagt Florian ruhig. „Johnny, komm her.“ Er spricht so nett mit dem Hund, als wäre der ein Kind. Und tatsächlich: Der Hund kommt auf ihn zu – und rennt an ihm vorbei. Florian schiebt seine Hände wieder in die Taschen seines Mantels. „Mit ein bisschen Führen funktioniert das hier nicht“, greift Kley die Aussage des Berliners auf. „Entweder ganz oder gar nicht.“

„Johnny komm, komm“, beginnt Florian noch einmal. „Bleib, bleib.“ „Jetzt muss er eigentlich rum“, kommentiert René aus dem Wohnzimmer. Florian kommt in Schwung. Er hüpft über einen Maulwurfshügel, um an der Spitze der Herde zu bleiben. Doch die Schafe laufen an ihm vorbei. Genervt atmet er aus. Kley rät ihm nun durch das Headset, sich vorzustellen, ein Kollege ignoriere ihn bei der Arbeit. „Soll ich den Hund etwa anbrüllen?“, fragt der sonst so ruhige Florian. „Ja, volles Rohr!“, ruft der Schäfer ins Telefon.

Nach einigem Hin und Her geht Florian auf den Hund zu, streckt den Rücken durch, schaut zu Johnny herab und kneift die Augen zusammen: „Bleib!“, ruft er und macht einen Ausfallschritt auf Johnny zu. Er schreit: „Platz!“ Der Handylautsprecher im Wohnzimmer krächzt, als wäre er auf so eine Frequenz nicht vorbereitet gewesen. Der Hund anscheinend auch nicht. Johnny zögert. „Das ist das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, du meinst es ernst!“, sagt der Schäfer. Der erste Erfolg nach 25 Minuten auf der Wiese.

Die restlichen 35 Minuten übersteht Florian dann auch – gerade laut genug, um die Herde um die Weide zu lotsen. „Der Moment, in dem es funktioniert hat, war der, in dem ich wirklich genervt war“, sagt er später. Das Gefühl scheint ihn überrumpelt zu haben. „Es ist nicht leicht, die Komfortzone zu verlassen“, sagt der Schäfer und nickt.

Kollege René will genau das jetzt tun. „Dann wollen wir mal“, ruft er tatendurstig. Doch auch er lässt erst einmal ähnlich viele Kommandos auf Johnny niederregnen wie Regen auf die beiden tropft. „Der Hund fühlt sich nicht so wohl, du warst sehr forsch“, analysiert der Schäfer von drinnen. „Ja, er wäre gerade gerne woanders“, gibt René zu. Der Schäfer bringt ihm eine Leine nach draußen, um erst einmal ein wenig mit Johnny spazieren zu gehen. René hopst in seinen blauen Turnschuhen über die Wiese, Johnny trottet an der Leine hinterher. „Platz!“, brüllt er erneut. Johnny schaut rüber, dorthin, wo sein Herrchen um die Ecke gebogen ist. Platz macht er nicht.

Die Schafe haben sich auf der anderen Seite der Wiese versammelt. René scheint sie vergessen zu haben. „Ich glaube, ich war übermotiviert“, sagt René ins Mikrofon. Er dachte, dass die Strenge schließlich auch bei Florian geholfen habe. Bei ihm war das scheinbar der falsche Ansatz.

Sandra Wilmsmann lächelt im Wohnzimmer hinter der großen Scheibe zufrieden. Renés Scheitern macht deutlich, was die Teilnehmer lernen sollen. Nämlich, dass jede Situation und jeder Kollege anders sind. René atmet, das Mikrofon rauscht, ein, aus, ein, aus. „Komm Johnny, jetzt kriegen wir die Viecher in den Griff“, sagt René. Doch seine Körperhaltung sagt etwas anderes. Sein Körper scheint Johnny anzubetteln, ihn jetzt nicht im Regen stehen zu lassen.

Sandra Wilmsmann beobachtet René und Johnny durch die Fensterscheibe. „René redet ständig davon, wie viel Freiheit es in seinem Unternehmen gibt. Jetzt merkt man aber, wie sehr er die Kontrolle braucht“, analysiert sie. Schon den ganzen Tag wollte René kontrollieren, sagt sie – das Gespräch am Morgen und jetzt Johnny.

Derweil hört Johnny noch immer nicht auf René. „Dein Bewusstsein ist in Hals und Kopf“, sagt der Schäfer. „Und nicht im Herzen?“, fragt René. „Ein bisschen Bauch wäre gut“, sagt Kley. „Das sah bei Florian leichter aus, als es ist“, gesteht René. „Du gehst hin und nimmst den ganzen Raum ein. Du guckst gar nicht auf die anderen“, sagt der Schäfer durchs Mikrofon und meint vermutlich die Schafe.

Die Reaktion des Hundes kann persönlich treffen

Daniel Kley hat genug gesehen. Der Schäfer verlässt das Haus, stapft zur Wiese und ruft René zu sich heran. Da stehen sie nun gemeinsam und schauen in den Regen. Der Schäfer fasst sich grübelnd an den Kopf und legt dann seine große Hand auf seinen Bauch. „Die Befehle müssen von hier kommen, du musst es wirklich fühlen und meinen, was du zu Johnny sagst.“

„Mir fehlt die Logik mit Bauch“, sagt René. Gemeinsam setzen sie sich in Bewegung und spazieren zwischen den Maulwurfshügeln her. „Machst du so eine Show, um deiner Hilflosigkeit zu entkommen?“, fragt der Schäfer. „Du hast mich bei der Einführung kaum zu Wort kommen lassen.“ Renés Hände sind jetzt beide in seinen Hosentaschen verschwunden. Er bekäme die Situation nicht in den Griff, sagt er. Lautes Ausatmen – der Lautsprecher des Handys rauscht. „Ich habe mich heute Morgen gefragt, ob du meinen Job machen willst, als du so viel gefragt hast“, sagt der Schäfer. „Das ist purer Egoismus“, gibt René zu. „Ich komme erst runter, wenn ich mich mit Informationen füttere. Ich schaue dann gar nicht auf die anderen.“

Johnny kommt angetrottet und stellt sich neben die beiden Männer am Wiesenrand. „Du wolltest alles lenken, du warst gar nicht entspannt“, sagt der Schäfer. „Ja, ich habe es nicht so gemeistert, wie ich es gerne hätte“, gibt René zu.

Im Inneren des Hauses gibt Sandra Wilmsmann ihre eigene Einschätzung ab. Doch vorher kappt sie die Telefonverbindung. „Menschen kommen hier an Punkte, an denen sie ihr Leben lang vorbei geguckt haben.“ Es könne hart sein und ein paar Wochen dauern, bis die Teilnehmer merken, was in ihrem Leben schiefläuft.

Zurück im Haus lächelt René wieder. Sein bedrücktes Ich hat er draußen im Regen gelassen. „Ich empfinde Freude“, sagt er und strahlt in die Runde. „Freude darüber, dass Scheitern okay ist.“ Wilmsmann schaut ihn unsicher an. Sie wirkt nicht sicher, ob René Johnnys Botschaft auch wirklich verstanden hat. Aber bis Berlin sind es fünf Stunden – jede Menge Zeit zum Nachdenken. 

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