In der Wiederaufbaugesellschaft der Nachkriegsjahre blieb keine Zeit zu trauern, der Blick war starr nach vorne gerichtet. Männer, die unsägliches Leid erlitten und oft auch unsägliches verbrochen hatten, mussten ebenso funktionieren, wie verwitwete Mütter, die ihre Kinder alleine großziehen mussten. Das Wirtschaftswunder war kein Wunder, sondern Ergebnis einer extremen kollektiven Anstrengung von eigentlich überforderten Menschen. Sprachlosen Eltern, die gegenüber ihren Kindern oft schwiegen, auch aus Scham, angesichts der überwältigenden Schuld am Leid der Opfer deutscher Taten. Und Kindern, die die Sprachlosigkeit später brachen, indem sie schwere Vorwürfe erhoben, die keinen Platz für die Leiden der Eltern ließen. „Die Angst der Deutschen ist ein Symptom ungelebter Trauer“, sagt Baring.
Erst in den letzten Jahren sind die über die Erlebnisgeneration hinausreichenden psychischen Nachwirkungen des Krieges thematisiert worden. Die Journalistin Sabine Bode hat sie in mehreren Büchern bis in die Enkelgeneration der in den 1960er Jahren geborenen Deutschen verfolgt. Sie hat bei dieser Nach-68er-Generation, die vordergründig nichts mehr mit dem Krieg zu tun hatte, eine Diskrepanz festgestellt zwischen dem Gefühl, mit Informationen über das Dritte Reich in der Schule und im Fernsehen vollgestopft worden zu sein und gleichzeitig wenig über die Erlebnisse der eigenen Eltern oder Großeltern im Krieg zu wissen. Vor allem die Nachkommen von Flüchtlingen berichten über ein unheilschwangeres aber fast nie offen angesprochenes Leid, das die Stimmung in den Familien belastete.
Das Unbekannte aber ist die eigentliche Quelle von Ängsten. Und das Verschweigen von Leiden verhindert Erlösung. Psychologen sprechen vom Amfortas-Syndrom: Als Parsifal vor dem todkranken König Amfortas steht, wagt er zunächst nicht, die Frage zu stellen, die Amfortas und ihn selbst retten würde: „Woran leidest Du?“
Der kürzlich im Fernsehen gezeigten Dreiteilers „Unsere Mütter, unsere Väter“ ist so etwas wie eine verspätete Amfortas-Frage. Sein Erfolg zeigt das enorme bisher verdrängte Bedürfnis der Nachgeborenen, nicht mehr allein die Schuld, sondern auch das große Leid der Eltern und Großeltern wahrzunehmen.
Das Rezept gegen die deutsche Krankheit kann nur heißen: Reden, reden, reden. Mit den Eltern und den Großeltern der Erlebnisgeneration, falls die noch leben. Die Wirkung ist heilsam und befreiend. Nicht nur für die letzten Überlebenden des großen Grauens, sondern vor allem für die Nachgeborenen, die unter dem Bann des verdrängten Leids stehen.
Die Herkunftsfamilie, die Vorfahren sind unser Schicksal. Sie anzunehmen und zu lieben, so wie sie sind und waren - und ohne ihre Schuld zu vergessen – ist wohl der einzige Weg, die deutsche Angst zu überwinden.