




Als der deutsche Filmemacher Günther Klein vor 20 Jahren zum Weihnachtssingen in seinen Wiesbadener Salon lud, war das eine kleine Provokation an die Adresse der kreativen Klasse: Singen? Ging gar nicht. Etlichen der Designer und Werbeleute, die da am späten Nachmittag zusammenkamen, war seit Jahren kein Lied mehr über die Lippen gekommen. Erst recht nicht unterm Weihnachtsbaum, der festlich geschmückt im Erker stand, mit alten Kugeln und Glasperlen behängt.
Doch dann geschah das kleine Weihnachtswunder: Bei den ersten Gitarrenklängen stimmten fast alle ein in die Zauberformel „Alle Jahre wieder“. Erst zaghaft brummelnd, weil es ein bisschen peinlich war, sich plötzlich singen zu hören, dann mit fester Stimme, schließlich schmetternd beim Klassiker „O du fröhliche“. Es war fast eine „Art Erleichterung zu spüren“, sagt Klein, „als ob man ein persönliches Geschichtskapitel überwunden hätte“.
Sentimentalität muss nicht peinlich sein
Seither hat er immer wieder geladen, an die rot eingedeckte, mit Plätzchen, Pralinen und Textblättern übersäte Weihnachtsliedertafel, um das aus Kindheitstagen Vertraute zu zelebrieren, das Weihnachtsliedersingen, um „eine Gemeinschaft auf Zeit“ zu bilden, um „nicht mehr vor der eigenen Sentimentalität erröten zu müssen“. Ganz im Sinne des „größten deutschen Liedermachers“, im Sinne Martin Luthers, den man den heimlichen Schutzpatron der Wiesbadener Liedertafel nennen könnte.
Die berühmtesten deutschen Weihnachtslieder
„Stille Nacht“ ist das weltweit wohl bekannteste Weihnachtslied. Am 24. Dezember 1818 erklang es erstmals in einer Kirche bei Salzburg - zweistimmig zur Gitarre gesungen. Seit 2011 steht „Stille Nacht“ im Unesco-Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes in Österreich.
„O Tannenbaum“ geht auf ein schlesisches Volkslied aus dem 16. Jahrhundert zurück. Es hatte damals zwar mit dem Baum, aber nichts mit dem Weihnachtsfest zu tun. Erst 1818 entstand daraus das Lied, das wir heute kennen.
„Vom Himmel hoch“ gilt als eines der bekanntesten Lieder von Martin Luther und geht angeblich auf das Jahr 1535 zurück. Bearbeitet wurde es von Johann Sebastian Bach (1685-1750) wie auch von Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847).
„Ihr Kinderlein kommet“ soll Ende des 18. Jahrhunderts in Bayern entstanden sein - gedichtet von einem Kaplan namens Christoph von Schmid, der sich auch als Autor von Jugendbüchern einen Namen machte. Die Melodie wird dem Komponisten Johann Abraham Schub zugeschrieben.
„O Du fröhliche“ geht auf ein sizilianisches Fischerlied zurück, das der Dichter und Denker Johann Gottfried Herder (1744-1803) von seiner Italienreise mitgebracht haben soll. Der Text stammt aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Man muss nur auf die andere Rheinseite fahren, zur Johannes-Gutenberg-Universität, um sich darauf das wissenschaftliche Siegel geben zu lassen. Im Mainzer Gesangbuch-Archiv, dem einzigen seiner Art weltweit, stehen knapp 5000 Gesangbücher im Regal, vom 16. bis zum 21. Jahrhundert. Die katholischen Bücher sind blau, die evangelischen rot markiert, Letztere dominieren deutlich. „Das Gesangbuch ist eine Erfindung des Protestantismus“, sagt Hermann Kurzke, emeritierter Germanistikprofessor und Gründer des Archivs. Luther habe die Gemeinden stärker am Gottesdienst beteiligen wollen, als es die traditionell lateinische Liturgie zuließ. Die Gläubigen sollten die christliche Botschaft in ihrer Sprache singend in die Welt hinaustragen.
Protestantisches Gedankengut in Liedform
Der Wittenberger Mönch hatte schon früh verstanden, dass das gesungene Wort leichter den Hörer erreicht als das gesprochene. Er arbeitete planmäßig am protestantischen Repertoire, mithilfe des Buchdrucks. So wurden die reformatorischen Lieder, wie Kurzke sagt, zum „Vehikel einer Art Volksbewegung“, zu „regelrechten Hits“, zu „Exportschlagern“, die sich mit der Reformation verbreiteten, über das Medium des Gesangbuchs – nach Skandinavien, nach England und in die USA. Ob in schwedischen oder amerikanischen Gesangbüchern – überall erkenne man die Vorlagen der „gewaltigen lutherischen Produktivität“. Mit der Reformation sei auch das deutsche Kirchenlied und damit das Weihnachtslied „mitgenommen“ worden – von „Lobt Gott, ihr Christen alle gleich“ bis „Vom Himmel hoch, da komm‘ ich her“.
Konkurrenz der Konfession
Und das katholische Pendant? Dessen Verbreitungsgeschichte wirkt vergleichsweise provinziell: Die ältesten vorreformatorischen Weihnachtslieder in deutscher Sprache, so der Mainzer Liturgiewissenschaftler und Leiter des Gesangbuch-Archivs Ansgar Franz, sind „im Gottesdienst bezeugt“, sie docken an der lateinischen Liturgie an oder tauchen im Umfeld von Krippe-Spielen auf: „Da wird der Bogen gespannt von Weihnachten zur Passion und Auferstehung“, in Krippenliedern wie „Zu Bethlehem geboren“ oder in Adventsliedern wie „O Heiland, reiß die Himmel auf“, einem Lied der „eschatologischen Verheißung“, in dem das „Ende der Zeiten“ herbeigesungen wird, in dramatischen Versen des Jesuiten Friedrich Spee. Wohlgemerkt in deutscher Sprache.
Dennoch entstand in rein katholischen Ländern wie Italien oder Spanien kein volkssprachlicher weihnachtlicher Kirchengesang. Erst die „Reibung mit der reformatorischen Bewegung“, sagt Franz, der „konfessionelle Wettbewerb“ bringt die deutsche Kirchenliedproduktion in Schwung: Die Katholiken wollen den Protestanten zeigen, dass sie genauso schöne Weihnachtslieder schreiben können. Beispielsweise „Es ist ein Ros entsprungen“, ein Lied von genialer melodischer Einfachheit. Es hat bis heute seinen Zauber nicht verloren. Auch nicht seine Rätselhaftigkeit.