Tauchsieder
Eine Todesanzeige zum Buch Quelle: Illustration

Das Buch - eine Grabrede

Die Deutschen lesen nicht mehr. Und informieren sich jenseits von Büchern zu Tode: ungeduldig, zerstreut und bei Bedarf.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Nicht Amazon ist der Feind der Buchbranche, so lange sich viele Verleger das auch eingeredet haben. Sondern der Leser. Genauer gesagt, die Spezies, zu deren Bezeichnung früher einmal das Wort „Leser“ zur Verfügung stand. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels hat es vor ein paar Tagen endlich eingeräumt: Die Zahl der Buchkäufer ist von 2015 bis Mitte 2017 um rund sechseinhalb Millionen auf 30,2 Millionen gesunken - das ist ein Minus von knapp 20 Prozent. Nicht mal mehr jeder dritte Deutsche hat 2017 noch regelmäßig zum Buch gegriffen.

Vielleicht noch eindrücklicher stellt sich die Zahl der überzeugten Nichtleser dar: Jeder vierte Deutsche verzichtet komplett aufs Buch. Bereits im Oktober hatte Diogenes-Verleger Philipp Keel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) Bilanz gezogen: „Praktisch auf der ganzen Welt ist der Buchmarkt in den vergangenen siebzehn Jahren um die Hälfte eingebrochen.“ 

Die sinkenden Geschäftszahlen sind das Eine. Die „gewisse Trivialisierung des Buchmarkts“, die selbst Heinrich Riethmüller, Vorsteher des Börsenvereins, konstatiert, ist etwas ganz Anderes. Denn tatsächlich täuschen mäßig sinkende Absatzzahlen (minus 3,6 Prozent) über massive Qualitätseinbußen hinweg. Anspruchsvolle Literatur geht in der Schwemme der jährlich 90.000 Neuerscheinungen, der konfektionierten Krimis, der Kochbuch-Stangenware und Fantasy-Trivialitäten zunehmend unter. Die Verlage betreiben heute doppelt so viel Aufwand, heißt es, um ihre Bücher als saisonale Sensationen in immer kürzeren Abständen in immer schneller drehende Aufmerksamkeitsmärkte zu platzieren: Die Buchumlaufgeschwindigkeit ist hoch wie nie.

Mit der Konsequenz, dass selbst anspruchsvollen Autoren mit Zweifeln und Ambivalenzgefühlen der Zugang zum Markt verwehrt bleibt: Wer werkelt noch an Gedanken und meißelt Sätze, der mit der Reihung von Buchstaben und der Produktion von Worten sein Geld verdienen muss? Zumal es dafür Leser bräuchte, die den sorgfältigen Gedanken und den gemeißelten Satz noch schätzen. Der Leser von heute schlingt aber gern schnell und unkompliziert. Er liebt das leicht Verdauliche, das Modische und Verzehrfertige: geistiges Fast- und Conveniance-Food. Eine fordernde, anstrengende, buchstäblich welterweiternde Lektüre hingegen liegt ihm bleischwer im Magen. Das Maximum, wozu selbst ein normalbegabter Berufsmensch mit intellektueller Ambition heute nach Feierabend noch fähig ist, sind, sagen wir: Daniel Kehlmanns „Tyll“ und Yuval Hariris „Homo Deus“. Und man wird den Verdacht nicht los, die beiden Werke werden deshalb so häufig zu „meinem persönlichen Buch des Jahres“ gekürt, weil mehr als zwei Bücher für ihre Leser auch 2017 wieder mal nicht drin waren...

Doch das Problem reicht tiefer. Man trifft in Hauptseminaren der Volkswirtschaft heute tatsächlich Menschen, die nicht Adam Smith und Friedrich August von Hayek gelesen haben, die nicht wissen, wer Francois Quesnay oder Carl Menger war, wofür Albert O. Hirschman oder Karl Polanyi stehen. Selbst Germanistik-Studenten fressen sich nicht mehr hungrig durch den Kanon, weil sie sich ein Leben ohne Literatur durchaus vorstellen können - und daher von vornherein bereit sind, rhetorisch den Anschluss zu verlieren an Wilhelm Raabe, Gottfried Keller oder Adalbert Stifter.

Bücher, TV, Streaming? Diese Medien finden die Deutschen unverzichtbar

Vor ein paar Wochen haben sogenannte Literatur-Journalisten im Fernsehen allen Ernstes davon gesprochen, dass Grimmelshausens „Simplicissimus“ heutzutage ungenießbar sei, obwohl Reinhard Kaiser den Barockroman 2009 in zeitgemäßes Deutsch „übersetzt“ hat. Eine Sprache, die solche Anwälte hat, braucht keine Ignoranten mehr - sie ist längst zwergenhaft, verarmt. Man muss sich nur mal das verheerende Verbensterben in journalistischen Gebrauchstexten vor Augen führen: Ganz gleich, ob man in Magazinen, Tageszeitungen, Online-Portalen blättert - es findet sich kaum noch ein Text, der nicht vom Universalprädikat „machen“ beherrscht wird oder von den zu Vollverben aufgepumpten Auxiliaren „haben“ und „sein“.

Dass die sensorische Wahrnehmung und Weiterverarbeitung dessen, was ist - unser Zugang zu Information und Wissen -, an Sprache geknüpft ist, die einem je nach Reichtum und Vermögen mehr oder weniger Möglichkeiten der Welterschließung eröffnet - wen scheint diese Basisinformation in der sogenannten „Wissensgesellschaft“ noch zu kümmern? 

Welche Gründe aber ließen sich aufzählen für den Abstieg des Buches, die Entwertung der Sprache? Zwei Antworten liegen nahe. Erstens: Internet und Smartphone stehlen Lesezeit. Das Buch steht heute in Konkurrenz zu Streaming-Diensten wie Netflix, die uns pausenlos mit Fernseh-Romanen versorgen. Und warum auch nicht: Eine Serie wie „Wired“ oder „Narcos“ unterhält so anspruchsvoll wie ehedem ein guter Feuilletonroman, „The Sopranos“ und „Breaking Bad“ ziehen uns Bildschirm-Konsumenten genauso in den Bann wie „Die Geheimnisse von Paris“ oder „Im Westen nichts Neues“ Zeitungsleser im 19. und 20. Jahrhundert.

Zweitens: Internet und Smartphone stehlen Aufmerksamkeit. Wischen, Scannen, Klicken, Liken killen die Konzentration; die roten Nachrichten-Buttons auf unseren Mail-, Twitter-, Facebook- und WhatsApp-Kacheln schreien nach Beachtung, prämieren allzeitige Ablenkungsbereitschaft - und unterlaufen jede Anstrengung, sich stundenlang in einen Text zu vertiefen. Bestenfalls heißt das: Die „situative Fokussierung“ löst das „Unterwegssein im Denken“ ab (Roberto Simaowski), die schnelle Information das unendliche Gespräch, der anstrengungslose Zugang das gedankliche Verweilen, die zahlenhafte Nützlichkeit die narrative Ästhetik: Warum den „Zauberberg“ lesen, wenn’s ein Abstract gibt, der mich in einfacher Sprache über das Wichtigste informiert?

Neue Medien gewöhnen die Jugend früh an Selektion

Ob Sie es glauben oder nicht: Es gibt eine App namens Blinkist, die „große Ideen“ in „cleveren Kurztexten“ - sogenannte „Blinks“ - auf den Punkt zu bringen verspricht, damit ihre Nutzer sich nicht nur die Buchlektüre ersparen, sondern auch „mit ihren Noten glänzen“ oder einfach nur „jeden Tag etwas dazulernen“ können. Am besten, man stellt sich das Angebot als eine Art intellektuellen Dauerkurzschluss nach dem Muster des Kleine-Welt-Phänomens vor: So wie jeder Mensch auf der Erde mit jedem anderen über eine verblüffend kurze Kette von Bekanntschaftsbeziehungen verbunden ist, so kann man mithilfe von Blinkist alle noch so aufwendige Gedankenarbeit über verblüffend kurze Assoziationsketten für jedes beliebige Hirn anschlussfähig machen. Alles, was es dazu braucht, ist ein gerüttelt Maß Geistesarmut.

Mit Blick auf Timothy Snyders „Bloodlands“ und „Die Schlafwandler“ von Christopher Clark kann man etwa lernen, dass „totalitäre Regimes bösartige Machthaber“ hervorbringen und Geschichte „oft unterschiedliche Seiten“ hat. Hammer! Scheint echt 'ne komplexe Sache zu sein, die Welt. Also auch früher schon.

Alles nur kulturkritisches Geraune? Von wegen. Renate Köcher vom Institut für Demoskopie Allensbach hat in der FAZ diese Woche auf sehr bodenständige, datengesättigte Weise auf die Folgen der veränderten Mediennutzung hingewiesen. Während sich mit „der Ausbreitung des Fernsehens“ in den Sechzigerjahren „der Anteil politisch Interessierter verdoppelt“ hat, so Köcher, grenze das Internet das „Interessenspektrum“ seiner Nutzer deutlich ein. Der Anteil der unter 30-Jährigen zum Beispiel, die sich mindestens begrenzt für Wirtschaftsthemen interessieren, habe sich seit 2000 von 44 auf 37 Prozent verringert, so Köcher. Anders gesagt: Das Internet senkt nicht nur die Schwellen zur Information - es schmälert im Schnitt auch unser vernetzbares Wissen.

Die neuen Medien gewöhnen „Jugendliche schon früh an Selektion“, so Köcher weiter, „also daran, die Themen abzurufen, die sie von vornherein interessieren“: Sie unterlaufen „die kontinuierliche Auseinandersetzung mit Themen“. Übrigens nicht zuletzt deshalb, weil das Wissen, dass Informationen jederzeit zur Verfügung stehen, den Wert ihrer kontinuierlichen Bearbeitung und Verarbeitung infrage stellen. Kurz, der Konjunktiv der netz-theoretischen Abrufbarkeit von Wissen siegt über den Indikativ der lese-praktischen Aneignung. Eine Gesellschaft aber, „die sich zunehmend ungeduldiger, weniger regelmäßig, sondern anlass- und bedarfsgetrieben informiert“, so Köcher, laufe Gefahr, ihre Urteile stärker unter dem Einfluss von „Aufregungszyklen und Sonderereignissen zu bilden und nicht auf einem belastbaren Wissensfundament, das auch die Einordnung erleichtert“.

Und damit nicht genug. Denn in der digitalen Welt von heute und morgen promoviert der Mensch zu einer Art Informationsschnittstelle, die laufend Daten konsumiert und liefert. Das heißt, wir eilen einem Zeitalter entgegen, in dem wir jederzeit verbunden sein werden mit der Gegenwart - und zunehmend abgeschnitten vom kulturellen Erbe der Menschheit. In dem wir unbegrenzten Zugang zu allem und zu jedem haben, aber nicht mehr im Gespräch mit Autoren, Büchern, Texten der Vergangenheit sind. Der New Yorker Medientheoretiker Douglas Rushkoff hat das auf den schönen Begriff (und Buchtitel) „Present Shock“ gebracht: Vergangenheit und Zukunft spielen ganz einfach deshalb keine Rolle mehr, weil wir sie vor lauter Gegenwart nicht mehr bemerken. Die meisten Leser seines Werkes etwa, so Rushkoff, würden es allenfalls noch quer oder auszugsweise lesen, sich vor allem aber ganz schnell wieder anderen Informations- und Unterhaltungsquellen zuwenden.

Der Grund dafür ist weniger, wie oben angedeutet, dass das geschriebene Wort sich vom Trägermedium Buch löst. Auch nicht, dass es auf dem Tablet-Computer in unmittelbarer Nachbarschaft zu anderen Informations- und Unterhaltungsangeboten steht, die mit ihm um die Aufmerksamkeit des Medienkonsumenten ringen. Sondern der Grund ist vor allem, dass es keine allgemeine Verbindlichkeit von Information mehr gibt, kein Empfinden für einen Fortschritt, einen Diskurs, der unsere Erfahrungen, unser Denken, unser Tun bündelt. Die Zeit der „großen Bücher“ etwa ist unwiderruflich vorbei. Kein noch so gescheites Werk eines Dichters oder Denkers ist heute noch so obligat wie ehedem der neue Günter Grass, so definitiv wie ein Essay von Jürgen Habermas. Oder anders gesagt: Ein Buch ist heute exakt das, was seine Leser zu nichts mehr verbindet. Stattdessen haben wir uns daran gewöhnt, "a tempo zu lesen, nämlich alle stets das Selbe,… das Neueste", so Arthur Schopenhauer bereits vor 150 Jahren und: „Weil die Leute, statt des besten aller Zeiten, immer nur das Neueste lesen,..., verschlammt das Zeitalter immer tiefer in seinem eigenen Dreck.“

Wohin das führt, haben wir zuletzt während der Finanzkrise erlebt: zur Hybris einer funktionalen Intelligenz und technischen Vernunft, die sich unbedingt auf der Höhe ihrer Zeit meint. Zu prozyklischen Autosuggestionen wie der mathematischen Beherrschbarkeit von Risiken. Zum Triumph algorithmisch frisierter Modelle und statistisch scheinbar abgesicherter Meinungsmoden. Man darf es ruhig ein wenig pathetisch formulieren: Von der Fähigkeit zur lesenden Flucht aus der Schnittstelle hängt heute ab, ob wir die Welt überhaupt noch „zu lesen“ vermögen: nicht nur als sich vollziehende Gegenwartstatsache, sondern gleichsam von außen: auch als Raum des Eventuellen, Möglichen, Offenen und Anderen. Das Buch wird zum Fluchtraum. Das Lesen zum Akt des Widerstandes. Der Rest wird instantanes Präsenzrauschen sein.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%