




Als Kurt Beck im Jahr 1994 Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz wurde, umarmte er seinen Vorgänger Rudolf Scharping herzlich – und Wolf Jobst Siedler sah sich bestätigt. Der Publizist, ein melancholischer Chronist gesellschaftlicher Untergänge, nahm endgültig Abschied von der Bürgerlichkeit. Denn der Bürger, wie Siedler ihn sich vorstellte, bezeugte seine innere Haltung auch durch diszipliniertes Auftreten: Indem er seinem Gegenüber die Hand gab, wahrte er die Würde der Distanz.
Aus, Schluss, vorbei.
Noli me tangere, rühr mich nicht an – von diesem Abstandsgebot wollen Menschen heute weniger wissen, erst recht auf der öffentlichen Bühne. Als Ideal gilt der Politiker zum Anfassen, der die Nähe zum Wähler ebenso sucht wie zu seinesgleichen. Auf Kundgebungen, Parteitagen oder Gipfeltreffen zählt die physische Präsenz: Es wird nach allen Regeln der Begrüßungskunst geherzt, getätschelt und gedrückt.
Bruderkuss und Umarmungen
Das gilt nicht nur bei den Genossen, die Solidarität traditionell durch Bruderkuss und Unterhaken bekräftigen. Wer Sympathie demonstrieren will, umarmt sein Gegenüber, gibt ihm einen Klaps auf den Rücken, lässt die Hand auf seiner Schulter ruhen. Das signalisiert Verbundenheit: Wir halten zusammen, verstehen uns, vertrauen einander. Das war schon immer die Botschaft, wenn Politiker sich öffentlich umarmten. Doch die Gesten haben sich verändert.
Was Ihre Gesten über Sie verraten
signalisiert laut den Bewerbungsexperten von Hesse/Schrader Konzentration oder Nachdenken
bedeutet Ungeduld oder Nervosität, vielleicht sogar Provokation
zeigen die eigene Überlegenheit
Gesagtes wird zurückgenommen, weil Unsicherheit in der Sache besteht
demonstriert Selbstzufriedenheit, wirkt aber nicht immer sympathisch
zeigt bei Zurücklehnen grenzenlose Souveränität
lässt auf Desinteresse, Unkonzentriertheit oder Nervosität schließen
steht für Nachdenklichkeit, Erschöpfung oder Langeweile
zeigt Ratlosigkeit oder Unsicherheit
steht für Nachdenklichkeit und Zufriedenheit
zeigen bei Frauen: Unsicherheit oder Angst, bei Männern: Ablehnung und Verschlossenheit
signalisieren Überheblichkeit, gleichzeitig Abwehr gegen Einwände
Nachdem sie am 22. Januar 1963 den Élysée-Vertrag unterzeichnet hatten, beugten sich Charles de Gaulle und Konrad Adenauer einander entgegen. Die Fotos zeugen von zeremonieller Feierlichkeit. Als sich Jacques Chirac und Gerhard Schröder bei der Gedenkfeier zum 60. Jahrestag des D-Day am 6. Juni 2004 umhalsten, dominierte handgreifliche Herzlichkeit.
Was für ein Unterschied: De Gaulle und Adenauer traten als Repräsentanten ihrer Länder auf, mit dem noch in der Zuwendung distanzierenden Pathos von Staatsmännern. Chirac und Schröder waren eher Privatpersonen in Ausübung öffentlicher Rollen, mit der Ungezwungenheit guter Freunde. Inzwischen ist klar: Ihre zupackende, kumpelhafte Art hat sich durchgesetzt.
Kuscheln für die Kameras
Wenn Staatschefs zusammenkommen, wie jüngst auf dem bayrischen Schloss Elmau, gibt es ein großes Hallo mit Körperkontakten für die Kameras: Obama und Cameron, Cameron und Hollande, Hollande und Merkel drücken einander mehr oder wenig heftig ans Herz und bilden eine Gruß- und Kussgemeinschaft, in der es zugeht wie in einer Familie. Die persönliche Distanz schrumpft, der Respektabstand, der im öffentlichen Leben Schutz vor Zudringlichkeiten bietet, wird demonstrativ außer Kraft gesetzt: Gruppenumarmung im Zeichen der Brüderlichkeit.
Mit der intimen Freundschaftsgeste bestätigen die Politiker nur, was in der Gesellschaft Standard geworden ist: Gleichgesinnte umarmen sich – diese Geste, auch Akkolade genannt, kennt man aus den Mittelmeerländern. Doch hinzu kommt eine spezifisch emotionale Färbung: Man kommt einander näher als beim Händedruck, lässt Steifheit fahren, betont die Innigkeit, die Beseeltheit der Beziehung, überbrückt nicht nur symbolisch den trennenden Abstand, sondern öffnet sich dem anderen als ganze Person.