Virtuos beleidigen "Gesten sind wie eine Fremdsprache"

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Warum funktioniert die Geste in der Popkultur als Werbung?

Wenn die Geste so ablehnend ist, wie sie sagen – warum funktioniert es in der Popkultur als Werbung?

Der von Frank Zappa mitten im Konzert in die Höhe gestreckte Mittelfinger ist ein Zeichen, mit dem er sagt, dass das alle machen sollten als Geste gegen die herrschende Elite. Hier ist es keine Aggression gegen das Publikum, sondern eine Herstellung von Gemeinsamkeit. Wenn sich die Rockmusik anti-bürgerlich definiert, dann ist die Ablehnung ein gutes Mittel, Identität zu stiften. Es hilft natürlich auch, die Verkaufszahlen nach oben zu treiben, in dem mit dieser vermeintlich non-konformistischen Geste, eine bestimmte Kundschaft angesprochen wird. Im Falle des Covers des erotischen Bildbandes der Popmusikerin Madonna, das zeigt, wie sie sich den Mittelfinger in den Mund steckt, handelt es sich wiederum klar um eine sexuelle Geste.

In seiner herkömmlichen Darstellung ist der Mittelfinger aber emanzipiert – er hat bei Frauen die gleiche Bedeutung wie bei Männern?

Nein, da gibt es keinen Unterschied. Das ist geschlechtsneutral.

So benehmen Sie sich in Deutschland richtig

Sie sind von Haus aus als Romanist und Literaturwissenschaftler dem Text verbunden. Hat die Geste eine literarische Qualität?

Meine Forschungen in der Literatur führten dazu, dass ich erkannt habe, dass in Erzähltexten nicht nur berichtet und geredet wird, sondern dass auch Körpersprache inszeniert wird. So bin ich auf diese Ebene von Sprachkunstwerken gekommen. Die Darstellung von körperlicher Kommunikation in Erzähltexten ist ein eigenes Element. Wie wird Körpersprache in der Literatur verwendet? Mit dieser Frage habe ich mich dann beschäftigt. Danach wurde ich von einem Wissenschaftler gefragt, ob ich nicht an einem Buch über Gesten mitarbeiten wolle. Es begann dann vor mehr als 20 Jahren mit dem Lexikon der Berliner Alltagsgesten. Seitdem habe ich kontinuierlich jedes Vorkommen der mir relevant erscheinenden Gesten festgehalten und gesammelt.

Sprache hat sich in den Jahrzehnten, Jahrhunderten massiv verändert, Gesten kaum. Wieso?

Gesten sind erheblich beständiger als Sprache. Gesten, die Körperliches ganz elementar ausdrücken, wie die phallische Herkunft des Mittelfingers, überdauern viele Jahrtausende. Gesten, die eher von kurzlebigeren Phänomenen ausgehen, verschwinden rasch. Ich glaube nicht, dass man in 500 Jahren noch nennenswert die Details des deutschen Faschismus kennen wird und mithin das Heben der rechten Hand so zuordnen wird. Über den Hitlergruß wird in 500 Jahren kaum noch wer was wissen. Über den gestreckten Mittelfinger schon.

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