Wer an der legendären B1 im Ruhrgebiet lebt, kennt nicht nur die zermürbenden Staus im größten Ballungsgebiet Europas, sondern auch Krater. Einige poppen plötzlich als größere Schlaglöcher auf, andere sind voluminös genug, um gleich mehrere Autos zu verschlingen. So geschehen vor zwei Jahren an der Frillendorfer Straße in Essen oder einst in der Emilstraße in Wattenscheid, als zwei Garagen, ein Auto und elf Tannen begraben wurden.
Schuld an den Kratern sind Bergwerksstollen, die den gesamten Pott durchziehen und auf ewig Kosten verursachen werden. Wenigstens 20.000 Schächte und Stollen im Ruhrgebiet sind einsturzgefährdet. Für Schäden kommt die Essener RAG auf. Unter dem Dach der Ruhrkohle-Nachfolgerin stecken die Reste des subventionierten Steinkohlebergbaus mit seinen Altlasten. Bis 2018 soll die letzte Zeche geschlossen werden. 2019 soll die Altlastenregulierung an die RAG-Stiftung abgegeben werden.
Die Stiftung hat unter ihrem Vorsitzenden, dem Ex-Bundeswirtschaftsminister Werner Müller (parteilos), in einer komplexen Transaktion ihre Chemietochter Evonik an die Börse gebracht. Diese soll mit den Erlösen aus Aktienverkäufen an Anleger und Dividendenausschüttungen an die Stiftung dafür Sorge tragen, dass der Steuerzahler aus der Haftung für den Bergbau raus sein wird.
Bis zu 2,5 Milliarden Euro steuerte der Staat in der Vergangenheit jährlich bei, um die Kohleförderung zu stützen und Bergbaulasten abzufedern. Steuergeld, das im Übrigen per Großspende von der RAG auch mal gerne an die beiden Parteien SPD und CDU floss, statt an bergbaugeschädigte Ruhrgebietsbewohner. Müller wurde Hauptsponsor des Fußballvereins Borussia Dortmund: Für zehn Millionen Euro zierte dessen Spielertrikots ein schlichtes Ausrufezeichen – angeblich um die Spannung für die Taufe der Evonik und das Ende der Ruhrkohle AG zu steigern.
Evoniks langer Marsch an die Börse
Die Essener RAG kauft im Februar 46,48 Prozent an Degussa von E.On und erhöht den Anteil bis Mitte 2004 auf 50,1 Prozent.
Bis Mai 2006 sichert sich die RAG schließlich alle Anteile am Spezialchemiekonzern. Am 14. September 2006 gründet sich die RAG Beteiligungs-AG. Unter ihrem Dach stecken neben Degussa der Energieerzeuger Steag und die Wohnungssparte RAG Immobilien AG.
Im Juli wird die RAG Stiftung gegründet. Sie hat die Aufgabe, langfristig Kapital für die Bestreitung der Ewigkeitskosten aus dem deutschen Steinkohlebergbau aufzubauen, die den Steuerzahler mit bis zu 2,5 Milliarden Euro jährlich belastet. Ende 2007 werden erste Mandate für einen Börsengang vergeben. Am 12. September wird aus der RAG Beteiligungs-AG die Evonik Industries AG.
Der britische Finanzinvestor CVC Capital Partners erwirbt im Juni für 2,4 Milliarden Euro 25,01 Prozent der Anteile an Evonik und erhält künftige Dividenden garantiert.
Im vierten Anlauf geht Evonik am 25. April an die Börse, aber ohne öffentliches Angebot. Großinvestoren waren die Aktien zuvor exklusiv angeboten worden. Der Singapurer Staatsfonds Temasek wird erster neuer Großaktionär mit 4,6 Prozent der Anteile.
Der Weg an die Börse für Evonik war voller Irrungen und Hindernisse. Üblicherweise bieten Banken die Papiere Fonds, Pensionskassen und privaten Anlegern innerhalb einer Zeichnungsfrist zu einer bestimmten Preisspanne an. Evonik wurden von der Deutschen Bank und der kleinen Frankfurter Mainfirst seit Ende Februar außerhalb der Börse bei großen institutionellen Kunden untergebracht, nachdem in den vergangenen Jahren mehrere Anläufe an unterschiedlichen Preisvorstellungen der Stiftung und potenzieller Großinvestoren scheiterten. Ein trickreicher Weg, der den Frust des Evonik-Vorstandschefs Klaus Engel über die Bankenkonfusion zeigt.
Seit gut einer Woche ist Evonik nun börsennotiert. Nachdem Großanleger sich letzte Pakete vor der Börsenregistrierung zu einem Kurs von 32,20 Euro sicherten, startete die Aktie an der Börse zu Preisen von 33 Euro. In den vergangenen Tagen bröckelten die Kurse vorübergehend ab.
Evonik bietet mehr als 4800 Produkte der Spezialchemie an und gilt als ausgesprochen innovativ und von dem durchsetzungsstarken Engel gut geführt. Die Palette reicht von Spezialdämmstoffen für Kühlschränke über Kleber für Versandverpackungen bis hin zu anspruchsvollen Kunststoffanwendungen für die Automobilindustrie. Zwölf Prozent des Umsatzes sollen in den kommenden Jahren als Gewinn vor Zinsen und Steuern (Ebit) hängen bleiben – das ist respektabel. Analysten erwarten zwar für 2013 einen um elf Prozent rückläufigen Nettogewinn. Wegen geringer Zinszahlungen bleibt aber auch die Nettogewinnmarge mit geschätzten 7,5 Prozent insgesamt auf einem hohen Niveau. Die Dividende sollte damit wenigstens, wie schon für 2012, bei 92 Cent je Aktie liegen, mit etwas Luft nach oben.
Gute Chancen, aber verschleuderte Anteile
Die Evonik-Aktie hat gute Chancen, bald in den Nebenwerteindex MDax aufzusteigen. Eigentlich sind alle Voraussetzungen erfüllt, dass Evonik, auch im Vergleich zu anderen Chemiewerten im Dax und MDax, an der Börse eine gute Figur macht. Doch Evonik ist alles andere als ein normales Papier. Schon 2007, so der Plan von Werner Müller, der Evonik von 2003 bis Ende 2008 als Vorstandschef leitete, sollte der Börsengang gestemmt werden. Ende 2007 wurden Morgan Stanley und die Deutsche Bank als Konsortialführer mandatiert – zu spät. Denn 2008 rutschten die Märkte im Zuge der eskalierenden Finanzkrise ab.
Müller verschob den Börsengang und beschaffte Bares für die Stiftung und ihre ewigen Lasten über einen Finanzinvestor: Im Juni 2008 bekam die britische CVC 25,01 Prozent von Evonik – zum Finanzkrisenpreis von nur 2,4 Milliarden Euro. Laut Berechnungen der WirtschaftsWoche (Ausgabe 24/2008) war Evonik mit der Tochter Steag (Energieerzeugung) und der Wohnimmobiliensparte damals zwar rund 16,6 Milliarden Euro wert. Müller handelte bei CVC-Mitbegründer Steve Koltes nur einen Wert von 9,6 Milliarden Euro aus. CVC bezahlte gut 40 Prozent oder 1,75 Milliarden Euro weniger als die 4,15 Milliarden, die der 25-Prozent-Anteil bei einer Bewertung wie in Normalzeiten hätte erzielen können.
Deshalb knallen in London bei den nur einen Steinwurf vom Savoy Hotel entfernt residierenden Briten die Korken. CVC kassiert nun kräftig ab. Die Rechnung:
- Gut 1,2 Milliarden Euro an eigenem Kapital brachte CVC 2008 auf.
- Weitere knapp 1,2 Milliarden Euro stellte vor fünf Jahren ein Konsortium aus acht Banken zur Verfügung – Bank of Ireland, Calyon, Lloyds TSB, Mediobanca, Raiffeisen Zentralbank und die Landesbanken WestLB, LBBW und Helaba.
- Grob geschätzt um die 150 Millionen Euro zahlte CVC dafür an Zinsen, etwa 30 Millionen pro Jahr. CVC profitierte immens von sinkenden Zinsen.
Auf 50 Millionen mehr oder weniger an Zinsen kommt es hierbei gar nicht an. Denn die Performance sieht glänzend aus:
- Seit ihrem Einstieg kassierten die Briten 463,7 Millionen Euro an Dividenden.
- Seit Ende Februar hat CVC rund 7,25 Prozent an Evonik verkauft. Gemessen an dem zuletzt erzielten Preis von 32,20 Euro je Aktie, kassierte CVC gut 1,125 Milliarden Euro – also schon annähernd das ursprünglich eingesetzte Eigenkapital.
- Das restliche Paket ist zu aktuellen Kursen 2,66 Milliarden Euro wert.
Inklusive der vereinnahmten Dividenden kommt das CVC-Paket auf einen Wert von 4,25 Milliarden Euro – fast exakt so viel, wie von der WirtschaftsWoche bereits 2008 errechnet. Seinen Eigenkapitaleinsatz als entscheidende Größe für Finanzinvestoren hat CVC nach Abzug der 1,2 Milliarden Schulden bis heute um gut 150 Prozent gesteigert. Jeder Zuwachs der Evonik-Aktie um auch nur einen Prozentpunkt erhöht die Performance des noch verbliebenen CVC-Aktienpakets um 26,6 Millionen Euro.
Chemiepapiere nicht günstig
Allzu hoch fliegen dürfte der Aktienkurs aber aus mehreren Gründen nicht: Das geschätzte Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von Evonik für dieses Jahr liegt bei teuren 14,7 – auf Augenhöhe mit der BASF-Aktie. Aber bei der für viele Investoren wichtigen Dividendenrendite schlägt BASF Evonik deutlich. Die Leverkusener Lanxess weist zwar die schlechtere Dividendenrendite aus, kostet aber, gemessen am erwarteten Gewinn, deutlich weniger als das Evonik-Papier (siehe Chartgalerie).
Insgesamt ist die Stimmung in der deutschen Chemie ohnehin leicht gedämpft. Lanxess etwa verbesserte in den vergangenen Jahren seine Ergebnisse fulminant, gerät aber nun wegen der anhaltenden Autokrise in Europa und einer damit einhergehenden geringen Nachfrage nach chemischen Produkten unter Druck. Lanxess ist der weltgrößte Hersteller von synthetischem Kautschuk, der in Reifen und Dichtungen verwendet wird. Vorstandschef Axel Heitmann reduzierte deshalb kürzlich seine Prognose für den operativen Ertrag im ersten Quartal um mehr als die Hälfte.
BASF überzeugte dagegen im ersten Quartal; die Ludwigshafener steigerten den Betriebsgewinn um zehn Prozent. Die Erlöse wuchsen von Januar bis März um fünf Prozent auf 19,7 Milliarden Euro. Der Nettogewinn sank dagegen um gut ein Siebtel auf 1,5 Milliarden Euro. Im Vorjahreszeitraum fiel allerdings ein Sonderertrag von 645 Millionen Euro aus dem Verkauf des Düngemittelgeschäfts positiv ins Gewicht. Negativ dagegen, dass BASF wegen neuer Regeln zur Bilanzierung von Altersansprüchen für die Mitarbeiter und zur Erfassung von Tochterunternehmen seine Langfristprognosen eindampfen musste.
Auf dem aktuellen Niveau wäre die Evonik-Aktie ebenso wie BASF als solide Beimischung für ein Privatanlegerdepot geeignet. Dagegen aber spricht die befürchtete Angebotsschwemme der Altaktionäre: CVC wird bestrebt sein, möglichst schnell seine verbliebenen knapp 18 Prozent abzustoßen, und wäre angesichts der aufgelaufenen üppigen Gewinne seit dem Einstieg 2008 sicher auch bereit, dies zu deutlich niedrigeren Kursen als aktuell zu tun. Die RAG-Stiftung will bis ins Jahr 2018 hinein ihren Anteil von derzeit noch knapp 68 Prozent auf dann ein Viertel drücken.
Das Verhältnis von bereits verkauften Aktien, rund 15 Prozent, zu noch zu verkaufenden (rund 60 Prozent) liegt bei 1:4. Wegen dieses massiven Überhangs meint Oliver Schwarz, Analyst bei M.M. Warburg in Hamburg, die Evonik-Aktie werde erst „interessant in zwei oder drei Jahren, wenn RAG seinen Anteil verkauft hat“.
Ob die RAG-Stiftung dafür ein glückliches Händchen haben wird, darf durchaus bezweifelt werden. Schon in der Vergangenheit stieß man in Essen Töchter oder Beteiligungen viel zu billig ab – zugunsten neuer Aktionäre.
RAG-Stiftung braucht Milliarden
Die Notwendigkeit, Geld einzusammeln, ist jedenfalls groß. Das Halten und Abpumpen von Grubenwasser, die Behebung von Bergbauschäden an Häusern und Straßen und Wegen, aber auch für die Entgiftung von Grund und Boden ist sehr teuer: Von 2018 an, nachdem es im Ruhrgebiet zum letzten Mal „Glück auf!“ geheißen haben wird, werden pro Jahr geschätzt 200 bis 250 Millionen Euro an Kosten anfallen.
Dafür, das erwartet die RAG-Stiftung aktuell, müsste eine Summe von acht bis zehn Milliarden Euro auf den Konten liegen. Sollte die Inflation aber zukünftig höher liegen als aktuell, dann stiegen auch die Verpflichtungen. So taxierte die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG die Ewigkeitskosten in einem früheren Gutachten auch schon mal auf gut 13 Milliarden Euro.
Es gibt Orte entlang der Ruhr, zum Beispiel in Essen, da ist der Boden um gut 30 Meter abgesackt. Selbst direkt neben dem Haus des Krupp-Testamentsvollstreckers Berthold Beitz im feinen Ortsteil Bredeney senkt sich der Boden eines Trampelpfades am Krupp-Wald so stark ab, dass der Weg gesperrt werden musste: „Achtung Bergschäden!“
Geordneter Rückzug
800 bis 1000 Meter tief unter der Erde stürzen immer wieder sehr alte, bereits seit Jahrhunderten stillgelegte Stollen ein. Gleichzeitig steigt der Grundwasserspiegel in nicht gefüllte Räume. In früheren Zeiten dachte noch niemand an die Folgen dieser ausgekohlten, längst verlassenen Hohlräume. Die Kumpel ließen sie einfach so, wie sie waren, oben wurde der Deckel draufgesetzt, und dann übergaben sie das verlassene Bergwerk der Natur.
Die zehn wichtigsten Aktien-Regeln
Gegen die größer werdenden Unwägbarkeiten sollte man sich zuallererst mit einer Strategie wappnen: Wer an kräftiges Wachstum in Deutschland glaubt, an einen anhaltenden Boom der Schwellenländer und hohen privaten Konsum, kann weiter am Aktienmarkt investieren. Wer skeptisch ist, sollte seine Bestände hingegen nicht aufstocken.
Eng verbunden mit der ersten Regel: Immer wieder kommt es vor, dass sich Dinge anders entwickeln, als man erwartet hat. Es ist wichtig, sich selbst immer wieder zu hinterfragen und nicht jeder Entwicklung hinterherzulaufen. Eine solche Reaktion zeugt nicht von einem geringen Vertrauen in die eigene Strategie. Es kostet meist auch Geld, weil die Masse schon vorher diese Richtung eingeschlagen und das Gros an Rendite eingefahren hat.
Groß oder klein, spekulativ oder konservativ, liquide oder illiquide, dividendenstark oder dividendenschwach, Substanz oder Wachstum: Bei Aktien ist die Auswahl riesig. Der richtige Mix aus spekulativen und konservativen Titeln hilft, Schwankungen zwischen guten und schlechten Zeiten auszugleichen. Nicht zu unterschätzen sind starke Dividendenzahler, die Jahr für Jahr den Grundstock für eine solide Rendite legen.
Keine Frage, die Börsen haben in den vergangenen zehn Jahren stärker geschwankt als in allen Dekaden zuvor. Das wird so bleiben, mit wachsendem Computerhandel sogar noch zunehmen. Wer sein Risiko minimieren will, baut Barrieren ein – sogenannte Stopps. Gerne werden Stopps bei 20 Prozent über und unterhalb des aktuellen Kurses gewählt. Dann wird automatisch verkauft, wenn diese Grenzen erreicht sind. Kommt eine Phase überraschend steigender Kurse mit anhaltendem Aufwärtstrend, lässt sich die Barriere leicht nach oben verschieben. Wichtig ist dann, auch die Barriere am unteren Ende nachzuziehen.
Wichtig in Phasen überraschender Kurssteigerungen oder -stürze ist es, das Verhalten der Masse zu beobachten. Ist es noch nachvollziehbar oder völlig irrational? Häufig ist es irrational. Dann hilft meist die zweite Regel: Widerstandskraft zeigen. Nach einigen Monaten kehrt die Rationalität von ganz allein zurück. Der Kurssturz aus dem vergangenen Jahr und die jüngste Entwicklung beweisen das gerade wieder.
Sind Aktien wie seit Jahresbeginn schon um 30, 40 oder gar 50 Prozent gestiegen, dann sind Anschlussgewinne in der Regel nur noch schwer zu erzielen. Phrasenverdächtig ist zwar die alte Weisheit: „An Gewinnmitnahmen ist noch niemand zugrunde gegangen.“ Richtig ist sie trotzdem.
Firmenchefs haben einen gewaltigen Vorteil gegenüber normalen Aktionären. Sie wissen weit mehr als jeder Analyst oder Kommentator, wie es in ihrem Unternehmen aussieht. Insider nennt man sie deshalb. Sie melden ihre Orders innerhalb von fünf Handelstagen an die Börsenaufsicht Bafin. Das Handelsblatt veröffentlicht alle zwei Wochen das sogenannte Insider-Barometer, das aus der Summe aller Kauf- und Verkaufsorders Schlüsse für den weiteren Verlauf in Dax & Co. zieht. Jüngste Tendenz: Vorstände und Aufsichtsräte verkaufen mehr als sie kaufen. Vorsicht also!
Terroranschläge und Naturkatastrophen kommen unerwartet. Politische Konflikte wie zwischen Israel und dem Iran schwelen meist länger. Auch entscheidende Wahlen sind vorhersehbar und haben immer Einfluss auf die Börse. Dabei gilt generell: Wahljahre sind gute Börsenjahre.
Mit Optionsscheinen oder Bonus-Zertifikaten lässt sich zwar aus einem Aufwärtstrend ein noch größerer Profit schlagen. Dies sind jedoch in der Regel Wetten ohne realen Hintergrund. Aktien sind reale Werte.
Vor allem Aktien einzelner Branchen unterliegen immer wieder gewissen Moden. Doch die wechseln wie im realen Leben, und manchmal geht das schneller, als man denkt. Das bekommt gerade die einst angesehene Solarenergie-Branche bitter zu spüren.
Das geht heute bei einem geordneten Rückzug aus dem Steinkohlebergbau nicht mehr. Die Bergwerke sind zu groß, um sie zu versiegeln und einfach zu vergessen. „Auf Ewigkeit“, so sagen es die Bergleute, fallen Kosten an, die Bergwerke vor dem Einsturz zu bewahren. Würden die großen Bergwerke kollabieren oder im Grundwasser ersaufen, würde sich über Tage eine Katastrophe anbahnen. „Solange das Ruhrgebiet keine Seenplatte werden soll, müssen die stillgelegten Zechen des Steinkohlebergbaus leergepumpt werden“, so formuliert der im vergangenen Herbst abgetretene, frühere Chef der RAG-Stiftung Wilhelm Bonse-Geuking, treffend das Problem – und beziffert die Kosten der Daueraufgabe auch gleich: „Das kostet aktuell etwa zwei Euro pro Kubikmeter Wasser.“
Schon jetzt wird gepumpt, was das Zeug hält. An der Emscher, einem Zufluss des Rheins, arbeiten an die 200 Pumpen unter Tage und verhindern, dass das Ruhrgebiet schiffbar wird. Und die Anzahl Bergbaugeschädigter, die bei der RAG ihre Ansprüche anmelden, wächst.
Was auf die RAG im Ruhrgebiet zukommt, lässt das Beispiel Saarland ahnen. Den Saarbergbau machte die RAG schon im Juni vergangenen Jahres komplett dicht. Kurz vor Ende einigte sich die RAG mit Bürgern, die ihre Schäden wegen Kohleförderung anmeldeten, auf eine Zahlung von sieben Millionen Euro. Etwa 17.000 Eigentümer oder Mieter von Häusern bekamen Pauschalbeträge für Schäden zwischen 2004 und 2008. Damit war ein jahrelanger Streit begraben, der sich an Entschädigungen bei Bergbauschäden entzündete. „Das wird nicht die letzte Zahlung gewesen sein“, heißt es aus dem Umweltministerium in Saarbrücken, „denn solche Schäden wird es über den stillgelegten Zechen immer wieder geben.“ Und ein NRW-Politiker sekundiert: „Im Ruhrgebiet steht der RAG-Rechtsabteilung ein sehr viel höheres Klagevolumen ins Haus.“
Das soll indirekt Evonik-Chef Klaus Engel tragen, mit seiner noch 49-prozentigen Kraftwerksbeteiligung Steag, die er bald für 600 Millionen Euro an die Ruhrgebiets-Kommunen verkaufen will. Und mit einem beträchtlichen Immobilienvermögen, das nun zwischen Evonik, der Stiftung, der alten RAG Aktiengesellschaft und der Evonik-Pensionskasse hin- und hergeschoben werden soll.
Knappes Stiftungsvermögen
Das Spiel auf Zeit mit vielen Unbekannten lässt neue Evonik-Aktionäre nicht unberührt. Schließlich wird die RAG-Stiftung eine Sperrminorität von gut 25 Prozent auf ewig halten. Vorbild ist das Modell der benachbarten Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, die unter Vorsitz des heute 99-jährigen Beitz seit jeher den ThyssenKrupp-Konzern dominiert. Andere Aktionäre außerhalb der Stiftung werden bei Evonik also wenig zu sagen haben – oder möglicherweise entnervt das Handtuch werfen müssen, wenn es um wichtige Entscheidungen geht.
Das bis zum Börsengang von Evonik angesammelte Stiftungsvermögen beträgt 2,6 Milliarden Euro. Die künftigen Einnahmen der Stiftung ruhen auf drei Säulen: dem Erlös aus dem Börsengang und weiteren Aktienverkäufen, der Evonik-Dividende auf die verbliebenen Anteile und den Erträgen aus Kapitalanlagen. Die ersten Einnahmen aus dem aktuellen Börsengang von knapp 1,2 Milliarden Euro überweist die Stiftung zurück an Evonik, für den Kauf eines Anteils von 40 Prozent an der Evonik-Immobiliensparte Vivawest.
Bei allem, und das hat bei den Ruhrkohle-Nachfolgegesellschaften schlechte Tradition, fingert die Politik mit. Schon jetzt zeigt sich, dass mit steigendem Vermögen der Stiftung auch die Begehrlichkeiten aus Düsseldorf und Berlin steigen. Vor allem konservative Politiker und Finanzfachleute mutmaßen, dass Werner Müller die Stiftung zu einem Forum für Industriepolitik machen möchte. Es drohe die Gefahr, dass das Vermögen der Kohlestiftung Kriegskasse für alle möglichen Infrastrukturmaßnahmen der rot-grünen Landesregierung unter Hannelore Kraft (SPD) in Düsseldorf missbraucht werden könnte. Immerhin stammt Müller aus dem Umfeld der SPD: Unter Gerhard Schröder war er Wirtschaftsminister.
SPD-Politiker, die Müller nahestehen, schlugen schon vor, Stiftungsgelder in PR-Projekte aller Art zu stecken, zum Beispiel um die Bergarbeiterstadt Bottrop zur „Innovation-City“ umzumodeln. Auch kursiert die Idee, die Bergwerke zu riesigen Pumpspeicherwerken umzubauen – teuer, technisch riskant und auf Kosten der Stiftung.
Geld ist vorhanden, und aus dem Steinkohlebergbau ließe sich immer noch Kapital schlagen – dieser Eindruck wird hier vermittelt. Doch noch immer wird im Bergbau vor allem kräftig Geld ausgegeben, und zwar das des Steuerzahlers. In drei Zechen im Ruhrgebiet und im Münsterland wurden zum Jahreswechsel immer noch 18.000 Bergleute beschäftigt. Im vergangenen Jahr flossen noch 1,9 Milliarden Euro Steuergelder, um das Heer der Kohleschürfer zu unterhalten. Der Kostenabbau läuft „so langsam wie eine Lore im Streb“, lästert ein Düsseldorfer Strukturpolitiker auf der Oppositionsbank.
Immerhin lässt die lange Übergangszeit bis 2018 genug Zeit dafür, dass sich die Stiftung langsam an den Gedanken gewöhnen kann, von 2019 an für die Ewigkeitskosten der stillgelegten Bergwerke mit ihren Kernmannschaften aufkommen zu müssen. Die Kernmannschaften, Schätzungen belaufen sich auf ein paar Tausend Männer, werden die Pumpen bedienen und warten sowie Fördergeräte, die wiederverwertbar sind, aus den Tiefen bergen.
Besser als Bundesanleihen
Ob bis dahin das Stiftungsvermögen ausreicht, die anfallenden Arbeiten auch finanzieren zu können, ist heute kaum zu prognostizieren. Ohne den Einstieg von CVC hätte die Stiftung in den vergangenen fünf Jahren 1,85 Milliarden Euro an Dividenden kassiert. Auf diesem Niveau Dividenden auch für die kommenden Jahre zu erwarten grenzt nicht an Größenwahn. Allein die dieses Jahr gezahlte Ausschüttung liegt 140 Prozent über dem Betrag, den die Stiftung mit einer zehnjährigen Bundesanleihe erzielen könnte.
Stand heute wäre es für den Steuerzahler sogar deshalb besser gewesen, hätte die Stiftung keinen Anteil an Evonik verkauft – weder an einen Finanzinvestor wie CVC noch über die Börse. In Essen könnte man das eines Tages genauso sehen – und über Aktienrückkäufe und Übernahmeangebote Evonik wieder komplett in die Stiftung überführen.
So oder so müsste die Evonik-Aktie ein Heer von Fans haben: Nicht nur die neuen Anteilseigner, sondern auch alle Steuerzahler sollten kräftig die Daumen drücken, dass der Kurs steigt. Passiert das Gegenteil zahlen Letztere wieder – die Zeche.