Eine etwas andere Aktienanalyse Das ist die beste deutsche Aktie 2020 – und da ist noch mehr drin

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Was Zahlen, Profi-Anleger und die Familie über Westwing verraten

5. Schritt: Die Zahlen

415 bis 440 Millionen Euro wollen sie in diesem Jahr umsetzen, 1500 Mitarbeiter, 5000 Lieferanten. Die Bruttomarge, also die Spanne, die sie vor Kosten verdienen, ist in diesem Jahr von 45 auf phänomenale 49 Prozent gestiegen. Marketing- und Verwaltungskosten gehen zurück, sie scheinen ihre Prozesse wirklich im Griff zu haben. Keine teuren Übernahmen. Okay, der operative Gewinn ist ein wenig bereinigt worden, um Einmaleffekte und vor allem die Kosten der aktienbasierten Vergütung – Frau Lachance und diverse andere Mitarbeiter sollten eben auch vom Aktiengewinn profitieren. Es sei ihnen gegönnt. Ein gutes Zeichen: Viele Banken haben die Aktie noch nicht auf dem Zettel, gerade mal vier Analysten beobachten das Papier, sagt Bloomberg.

Einer Präsentation vor Analysten in Frankfurt entnehme ich: Das Ergebnis vor Steuern, Zinsen, Abschreibungen (Ebitda) soll auf 37 bis 48 Millionen Euro steigen, das entspricht einer Gewinnmarge von neun bis elf Prozent. Auch der letzte Quartalsbericht sieht beeindruckend aus.

Binnen neun Monaten 55 Prozent Umsatzplus, Ergebnis ins Plus gedreht, 53 Millionen freier Mittelzufluss, und jetzt stolze 91 Millionen Euro Cash in der Kasse, fast ein Sechstel des Börsenwerts, – ein ordentliches Polster, die Eigenkapitalquote jetzt solide über 40 Prozent. Auch die Bilanz offenbart keine besonderen Auffälligkeiten.

Westwing-Gründerin Delia Lachance (Archivbild) - Die Aktie des Online-Händlers Westwing hat 2020 mehr als 800 Prozent plus geschafft. Quelle: imago images

6. Schritt: Was sagen die Profis?

So richtig gut mit Bilanzen kennt sich in der Redaktion Christof Schürmann aus, stellvertretender Ressortleiter, der sogar mal ein Buch darüber geschrieben hat („Die Bilanztrickser“). Also soll er mal draufschauen. Die Antwort kommt schnell, Christof bestätigt meinen Eindruck. „Nichts Bewegendes gefunden. Sieht insgesamt gar nicht übel aus. Cash, Eigenkapital, Finanzierung usw. Selbst operativ läuft das ja inzwischen sehr ordentlich.“ Für seine Verhältnisse schon ein fast überschwängliches Lob.

Jetzt rufe ich Peter Conzatti an, lange Jahre Fondsmanager in Frankfurt, ein Top-Spezialist in Sachen kleinerer europäischer Aktien. „Kennen Sie Westwing“. Klar kennt er sie, und hat sie auch gekauft, im Frühjahr, für den damals von ihm gemanagten Fonds bei Lupus Alpha. „Ich habe sie damals zu 2,50 bis 4 Euro gekauft,“ sagt er, „das war ein No Brainer, Market Cap unter Cash.“ Ich übersetze: Man brauchte keine Intelligenz, um die Aktie zu kaufen, denn sie hatten schon damals mehr Geld in der Kasse, als alle Westwing-Aktien zusammen an der Börse wert waren.

Nur dass die Aktie jetzt eben nicht mehr bei 2,50, sondern bei 30 steht. „Wer die sehr gut kennt, ist Markus Scharhag,“ sagt Conzatti. „Der war im Frühjahr der einzige, der an ihr festgehalten und sie empfohlen hat.“ Scharhag ist im Sales-Team beim Bankhaus Hauck & Aufhäuser – einer der Menschen, die zum Beispiel Fondsmanagern wie Conzatti gute Ideen verkaufen. Die Investoren lassen ihre Aufträge dann im Gegenzug über die Bank laufen, woran diese verdient. Ich rufe ihn an:

Herr Scharhag, was halten Sie von der Westwing-Aktie?
Markus Scharhag: Viel. Im Investmentbanking von Hauck & Aufhäuser haben wir das Potenzial der Westwing schon sehr früh erkannt, als man die Aktie noch für weniger als ihren Kassenbestand kaufen konnte – trotz validem Geschäftsmodell und einigen Umstrukturierungen. Es hat sich zu der Zeit kaum jemand dafür interessiert. Die Aktie ist trotzdem immer noch sehr billig.

Billig, nach fast 800 Prozent Plus?
Ein vergleichbarer Wettbewerber ist Wayfair, aus den USA, die auch auf dem deutschen Markt sind. Okay, sie sind deutlich größer, haben fast 30 Milliarden Dollar Börsenwert. Aber ihr Enterprise Value...

...das ist der Börsenwert plus Schulden minus liquide Mittel, also das, was ein Aufkäufer in die Hand nehmen müsste.
Genau. Und der liegt beim über 35-Fachen des Ebitda.

Und Westwing?
Beim Zehnfachen. Der Wettbewerber ist also mindestens dreimal so teuer.

Haben Sie noch eine Vergleichsgröße?
Enterprise Value zum Umsatz. Kleidungshändler Zalando kostet so viel wie der doppelte Jahresumsatz. Westwing bekommen sie fast zum Faktor eins.

Warum war die Aktie so abgestürzt?
Sie waren eines der Unternehmen, die beweisen mussten, dass sich Onlinehandel auch in Deutschland durchsetzt. Nach dem Börsengang haben sie zweimal mit ihren Ergebnissen enttäuscht, daraufhin haben alle großen Broker sie fallen gelassen. Die großen Anleger aus London haben die Aktie bei zwei Euro rausgeworfen. Alle haben gesagt, das sei der letzte Dreck. Doch sie haben an ihren Prozessen gearbeitet, zum Beispiel Auslieferungslager nach Polen verlegt und Kosten gespart. Und dann kam Corona.

Davon haben sie enorm profitiert.
Ja. Corona hat dem ganzen Investment Case massiv in die Karten gespielt. Das Unternehmen hat jetzt schon die Ziele erreicht, die sie 2024 erfüllen wollten.

Und jetzt?
Die Frage ist: was passiert nach Corona? Vieles wird nicht mehr so sein, wie es mal war. Der Mensch ist faul. Wenn ich einen Account bei einem Online-Händler habe, dann werde ich ihn auch nutzen, selbst wenn die Läden wieder auf sind. Dass die Leute stundenlang durch Ikea irren und an der Kasse Schlange stehen, das wird so nicht mehr sein. Andere Sachen werden zurückkommen. Restaurants zum Beispiel. Ich kann den Lieferdienst-Fraß nicht mehr sehen – bei den Aktien der Lieferdienste wäre ich vorsichtig.

Und bei Westwing?
Sie sind super positioniert und super günstig. Die Plattform wird weiter wachsen, aber natürlich nicht ansatzweise so stark wie in diesem Jahr.

Also kaufen?
Mir persönlich sind Internetwerte zu heiß gelaufen. Ich würde generell Rücksetzer abwarten. Westwing ist allerdings aus meiner Sicht fundamental immer noch ein klarer Kauf.

7. Schritt: Der Alltagstest

So weit die Profis. Ich teste Investmentideen gern privat. Bei Flugzeugturbinen ist das eher schwierig, hier aber nicht. Also dann: Auf Seite 27 ihrer Präsentation zeigen sie etwa, was die real existierende Kundin Helene L. aus Augsburg in der letzten Zeit so bestellt hat. Tischchen, Rähmchen, Bilder, Kissen, Kännchen. Ich zeige das meiner Frau. .„Würde ich nicht geschenkt nehmen“, teste ich mich vor. „Lauter überflüssiges Zeug“, stimmt sie mir zu, „obwohl“... – sie schaut noch mal genauer hin, – „die Lampe sieht doch gar nicht schlecht aus, und die da ist doch ganz schön“. Sie scrollt zurück auf Seite 23 der Präsentation. Auch „Sofa Lennon“ für 1599 Euro findet ihre Zustimmung. Es zählt zu den Bestsellern von Westwing.



Besonders erfreulich für Aktionäre: die Firma verkauft es unter eigenem Label – das heißt, die Gewinnmarge dürfte hier auch besonders hoch sein.

Ich starte noch einen zweiten Alltagstest, frage meine Tochter (22): „Kennst Du Westwing?“ „Klar.“ Sie zitiert den Spruch eines Freundes: „Jedes Zimmer von Frauen mit Mitte 20 ist eine Mischung aus Ikea, Westwing und einem alten Schrank von der Oma.“ Warum ich frage, will sie wissen. „Ich schaue die Aktie an,“ sage ich. „Sofort kaufen“, sagt sie. Alltagstest bestanden.

Fazit: Ein Coronaprofiteur mit guter Langfristperspektive und klarem, gut skalierbaren Geschäftsmodell – mit viel Cash auf der Bank und immer noch günstiger zu haben als viele andere Internetplattformen.

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