Eine etwas andere Aktienanalyse Das ist die beste deutsche Aktie 2020 – und da ist noch mehr drin

Westwing verkauft online Möbel sowie Wohnaccessoires und ist damit den Geschäftszahlen zufolge erfolgreich. Im Bild ein Popup-Store im Jahr 2018. Quelle: imago images

Zum Jahresende erreicht der Dax einen neuen Rekordstand. Doch die beste Aktie Deutschlands ist gar nicht in ihm vertreten. Welche Aktie nahezu 800 Prozent Plus gemacht hat und wie die Zukunftsaussichten sind.

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Redaktionskonferenz, großes gemeinsames Nachdenken: Was können wir den Usern noch so bieten bis zum Jahreswechsel? Chefredakteur: „Was war denn die erfolgreichste Aktie des Jahres?“ Schulterzucken. Im Dax der Neueinsteiger, der Lieferdienst Delivery Hero, weiß unser Dax-Guru Anton Riedl, Nickname: „Kurven-Toni“ – weil er Aktiencharts liebt und Motorrad fährt.

Wir wollen es genauer wissen. Was ist die beste deutsche Aktie – Pennystocks, die zu Centbeträgen handeln und deren Kurse erratisch schwanken, einmal außen vorgelassen. Riedl wirft den Bloomberg an, das Terminal des New Yorker Datenanbieters, in dem alles steckt, was man über Aktien wissen will, und screent die Märkte.

1. Schritt: Analyseobjekt finden

Schnell kommt das Ergebnis. „Nach vorläufiger, kurzer Recherche“, schreibt Riedl – vorläufig, weil Dividenden müsste man noch einbeziehen, aber angesichts der großen Prozentzahlen würden die nichts mehr am Ergebnis ändern. Er schickt mir seine Berechnungen.

Im Dax ist Lieferdienst Delivery Hero einsame Spitze: In zwölf Monaten (seit 27. Dezember 2019) plus 84 Prozent.
Im MDax gewinnt Shop Apotheke mit plus 210 Prozent. Biotech-Zulieferer Sartorius ist im TecDax unangefochten die Nummer eins: plus 79 Prozent in zwölf Monaten. Deutlich besser ist Modeversender Global Fashion Group, der Sieger im SDax: Plus 293 Prozent in zwölf Monaten.

Und jetzt kommt es: Die beste deutsche Aktie ist die Westwing Group: plus 738 Prozent seit zwölf Monaten. Sie liegt damit im CDax vorne. Riedl: „Das ist ein Internethändler für Einrichtungskram aus München, immerhin 663 Millionen Börsenwert.“

Der CDax ist der Index aller an der Frankfurter Börse gehandelten deutschen Aktien. Aktuell sind das noch gut 400, es waren schon einmal deutlich mehr, aber das ist ein anderes Thema. Selbst unter den gut 400 ist viel Schrott mit ganz wenig Börsenwert. Noch besser als Westwing waren bei denen mit mehr als 1000 Prozent die Pennystocks United Power Technologie und Solar Fabrik, „aber die sind mit einer Million Euro Börsenwert eigentlich keine richtigen Aktien,“ schreibt Riedl.

Also nehmen wir uns Westwing vor.

2. Schritt: Der erste Eindruck

Ein erster Blick auf den Chart verrät es: Die sind phänomenal gelaufen.

von Frank Doll, Martin Gerth, Niklas Hoyer, Saskia Littmann, Anton Riedl, Jan-Lukas Schmitt, Heike Schwerdtfeger, Andreas Toller, Lukas Zdrzalek, Tina Zeinlinger

Vor einem Jahr sah es tatsächlich nicht so doll aus, kostete die Aktie noch keine vier Euro. Jetzt sind es an die 30. Eines der Papiere, bei denen sich jeder Anleger ärgert, nicht dabei gewesen zu sein. Aber vielleicht ist der Drops noch nicht gelutscht? Amazon oder Apple haben sich ja auch vertausendfacht. Deshalb schauen wir genauer hin.

Anfangs interessiert immer: was macht das Unternehmen überhaupt? Und was sagen potenzielle Kunden dazu?
Die Website verrät das ziemlich genau. Einrichtungsgegenstände, Wohnaccessoires, kleine Möbel, alles online. Auf der Startseite ein Popup, das penetrant dazu auffordert, Mitglied zu werden – wie schon 31 Millionen Menschen zuvor. Sales-Angebote wohl nur für Mitglieder, sie verstehen sich offenbar darauf, Kunden ihre Daten abzunehmen und die weiter zu verwerten. Auf der Seite auch ein Foto von Gründerin Delia Lachance, („ehemals Redakteurin bei Elle und Elle Decoration“). Jetzt macht es Klick– eine Quasi-Kollegin, die es finanziell irgendwie klüger angestellt hat als man selbst. Als sie sich im März in die Babypause verabschiedete, musste sie ihr Vorstandsamt niederlegen, was eine Menge Aufregung verursachte und womöglich zu einer Gesetzesänderung führen könnte.

Ich hatte damals den Verdacht, hier suche jemand einen eleganten Abgang aus einem gescheiterten Unternehmen – offensichtlich eine Fehleinschätzung. Anfang März, als Delia Lachance in die Babypause ging, stand die Aktie bei 3,80 Euro. Anfang November, als sie als zurückkehrte, bei 28 Euro. Hat Frau Lachance da auch persönlich etwas von gehabt?

Schauen wir auf die Aktionärsstruktur.

Bemerkenswert besonders: Tengelmann ist dabei, und die Samwer-Holding Rocket Internet, die gerade mit rüden Methoden Anleger herausdrückt. Westwing ist also auch eine Rocket-Gründung, Das spricht nicht unbedingt gegen die Company. Zalando oder eben Delivery Hero haben nach Startproblemen Anlegern ordentlich Geld gebracht. Rocket hält noch 29 Prozent an Westwing, Frau Lachance taucht nicht unter den Großaktionären auf.

Sie hat aber wohl zum Börsengang Stock Options bekommen und später, in 2018, 176.550 Aktien gekauft, zum Freundschaftspreis von einem Euro, und seither keine verkauft.

3. Schritt: Das Geschäftsmodell

Westwing hat ein ziemlich smartes Geschäftsmodell. Sie kaufen Dekokram und Möbel, vieles sieht verdammt danach aus, als ob es containerweise aus China kommt, und verkaufen das online über ihre Plattform. 90 Prozent der Kunden sind: Frauen. Verständlich – persönlich würde ich sagen, es ist sehr viel Kram dabei, den kein Mensch braucht. Sachen zum „Setzen, stellen, legen“, wie es eine Freundin mal nannte. Aber Frauen fahren offenbar darauf ab.

Im Netz haben sie eine ziemlich aussagekräftige Unternehmenspräsentation. Sie scheinen es ziemlich gut hinzubekommen, die Frauen, die einmal Kundinnen waren, auch zu halten. 80 Prozent der Umsätze kommen von Kundinnen, die nicht zum ersten mal bei Westwing gekauft haben. Wiederholungstäterinnen, die eine Community bilden, aus denen Westwing sie nicht so schnell entkommen lässt. 1,3 Millionen aktive Kundinnen in elf Ländern in Mittel- und Westeuropa – da ist noch Luft nach oben, es braucht keine wilde Expansion in Afrika oder Asien, wo eh´ kein Investor nachvollziehen kann, ob die gemeldeten Zahlen stimmen. 85 Prozent der Umsätze kommen von Kundinnen, die pro Jahr über 100mal auf die Seite kommen - und dementsprechend mit Sonderangeboten belohnt und insbesondere auf Social Media bearbeitet werden. Das ganze soll eher wie ein Club funktionieren.

4. Schritt : Was sagt das Archiv?

Warum haben wir bei der WirtschaftsWoche die Aktie nie empfohlen? Weil wir sie aussortiert und abgehakt hatten, nach einem phänomenal missratenen Börsengang, bei dem Rocket Internet den Hals nicht voll bekommen konnte. Mein Kollege Frank Doll schrieb damals: „Sieben Jahre nach Gründung steuert Westwing auf gut 250 Millionen Euro Umsatz zu und schreibt schwarze Zahlen, wenn Anleger einem um nicht wiederkehrende Aufwendungen und Erträge bereinigten operativen Gewinn vor Vermögensabschreibungen als Kennzahl trauen wollen“ - und riet dann: Nicht zeichnen.

Damit lag er richtig: „Abgewatscht wurde auch ein Börsenneuling. Beim Debüt des Online-Möbelhändlers Westwing gab es zwar zur Erstnotiz gleich ein Kursplus von knapp zwei Prozent, im Laufe des Vormittags sackte die Rocket-Internet-Beteiligung aber drastisch. Am Nachmittag notierte sie bis zu 13 Prozent unter ihrem Ausgabekurs von 26 Euro,“ schrieb mein Kollege Andreas Toller.

Das damals zu teure Papier sackte immer weiter ab, bis auf 1,888 Euro Ende September 2019. Und dann kam Corona: Draußen alles deprimierend, Restaurants zu, überall Menschen mit Masken, Geschäfte geschlossen, Home Office. Was liegt da näher, als sein Heim zu verschönern – und die dazu notwendigen Dinge online zu kaufen? Hätte man drauf kommen können? Aber wie gesagt, nach dem Absturz hatten wir die Aktie nicht mehr auf dem Schirm. Ein Fehler, ganz offensichtlich. Aber rechtfertigen die Zahlen den raketengleichen Aufstieg der Aktie?

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