Intelligent investieren
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Es geht um die Gewinne von morgen

Thorsten Polleit
Thorsten Polleit Chefvolkswirt der Degussa

Für den Investmenterfolg ist die richtige Einschätzung der künftigen Unternehmensgewinne von zentraler Bedeutung. Deshalb sollten Anleger sich nicht auf einfache Kennzahlen wie das Kurs-Gewinn-Verhältnis verlassen.

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„Der Gewinn liegt im Einkauf“ ist eine häufig zitierte Weisheit an der Börse. Und da ist natürlich etwas dran: Ein attraktives Investment – wie zum Beispiel die Aktie eines herausragendes Unternehmens – ist besonders attraktiv, wenn man es billig kaufen kann, wenn man weniger zahlen muss, als es wert ist. Doch wann ist eine Aktie teuer, wann billig? Um diese Frage zu beantworten, hat die Finanzmarkttheorie und Investmentpraxis eine Vielzahl von Bewertungsmodellen hervorgebracht. Eine populäre Kenngröße ist das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV).

Um das KGV einer Aktie zu ermitteln, dividiert man den Kurs einer Aktie durch den Gewinn pro Aktie. Ist zum Beispiel der Kurs der Aktie 100 Euro, und beläuft sich der Jahresgewinn auf 10 Euro pro Aktie, errechnet sich ein KGV von 10. Was sagt uns das? Ein KGV von 10 bedeutet, dass der Investor – wenn der Gewinn pro Aktie unverändert bei 10 Euro bleibt – zehn Jahre warten muss, bis er seinen Einsatz wieder hereingeholt hat. Folglich werden Aktien mit einem hohen KGV üblicherweise als teuer und risikoreich, Aktien mit einem niedrigen KGV hingegen als billig und wenig risikoreich eingestuft.

Doch, wie so oft im wirklichen Leben, ganz so einfach ist die Sache nicht. Beispielsweise kann der Gewinn pro Aktie in einem Jahr aufgrund von einmaligen Sondereffekten (wie zum Beispiel einer Neubewertung der Bilanzaktiva oder einer Auflösung von Rückstellungen) ansteigen. Dadurch sinkt bei gegebenem Börsenkurs das KGV – und vermittelt den Eindruck, die Aktie sei günstig, obwohl sie das vielleicht gar nicht ist. Abhilfe schafft hier die Bereinigung der Gewinne um Sondereffekte oder das Verwenden von durchschnittlichen Unternehmensgewinnen der vergangenen (fünf) Jahre.

Zudem ist zu beachten, dass das KGV zinsabhängig ist. Befinden sich die Marktzinsen auf sehr niedrigen Niveaus – wie es seit Jahren in den großen Volkswirtschaften der Welt der Fall ist –, so steigen auch die Kurswerte der Aktien: Die künftigen Gewinne der Unternehmen werden mit einem nunmehr niedrigeren Zins abdiskontiert. Das erhöht ihren Barwert und damit folglich auch die Aktienkurse. Selbst bei unveränderten Gewinnen führt also ein Umfeld fallender Zinsen zu steigenden (und vergleichsweise hohen) KGVs. Es kommt noch ein weiterer Zinseffekt hinzu.

Niedrige Zinsen verringern die Kreditkosten der Unternehmen. Das begünstigt einen Anstieg der Unternehmensgewinne – und rechtfertigt zusätzlich steigende Aktienkurse. Reagieren die Unternehmen auf die niedrigen Zinskosten mit einem steigenden Verschuldungsgrad – erhöhen sie also den Einsatz von Fremdkapital relativ zu ihrem Eigenkapital –, steigt die Eigenkapitalrendite an, beziehungsweise die Aussicht auf steigende Gewinne pro Aktie verbessert sich. Das Investieren in Aktien wird aus Sicht vieler Investoren attraktiver, und Aktienkurse sowie das KGV der Aktien nehmen zu.

Dynamisierung des KGV

Eine wichtige Frage für den Investor, der das KGV als Kenngröße zu Rate ziehen will, ist die Folgende: Welche Gewinne sollen zur Berechnung verwendet werden? Man kann den Gewinn des letzten Jahres oder auch den geschätzten Gewinn des kommenden Jahres zur Kalkulation des KGVs verwenden. Im ersten Fall wird nicht berücksichtigt, wie sich der Gewinn des Unternehmens künftig entwickeln wird, im zweiten Fall wird nur die Gewinnentwicklung der unmittelbaren, nicht aber der längeren Zukunft eingefangen. Doch es gibt eine Möglichkeit, dem KGV mehr Zukunftsorientierung zu geben.

KGVs und Gewinnwachstum
AktieABC
Kurs in t200180150
Gewinn in t1064,5
Gewinn in t-1853
Kurs-Gewinn-Verhältnis in t203033
Gewinnwachstum in t-1 auf t, in %25,020,050,0

Dazu bringt man das KGV in Beziehung zum geschätzten Gewinnwachstum des Unternehmens. Die nachstehende Tabelle soll das illustrieren. Aktie A notiert bei 200 Euro und hat einen Gewinn pro Aktie von 10. Ihr KGV ist daher 20. Das bedeutet, dass Sie, wenn Sie die Aktie zu 200 kaufen, 20 Jahre warten müssen, bis Sie Ihre Investition wieder verdient haben. Doch das unterstellt, wie bereits erläutert, dass die künftigen Gewinne konstant bleiben, also nicht steigen oder fallen. Das Ergebnis ändert sich, wenn man diese rigide Annahme aufhebt.

Gewinne richtig einschätzen

Nehmen wir an, Ihre Analyse ergibt, dass das künftige Gewinnwachstum der Firma bei 25 Prozent pro Jahr liegt. Das bedeutet, dass sich Ihre Investition nach nur etwas mehr als 7 Jahren verdient gemacht hat. Vergleichen wir das mit Aktie B. Sie kostet 180 Euro und hat ein KGV von 30. Damit ist sie deutlich teurer als Aktie A. Gemäß Ihrer Schätzung beläuft sich das Gewinnwachstum dieser Firma auf 20 Prozent pro Jahr. Es dauert also fast zehn Jahre, bis der Investitionseinsatz bei konstantem Gewinn verdient ist. So gesehen ist B nicht nur teurer als A, sie ist auch risikoreicher (soweit man die jährlich zu erzielenden Gewinne zur Amortisation des Kaufpreises als Risikogröße akzeptiert).

Zum Schluss ist da noch Aktie C: Sie hat ein KGV von 33 – und ist damit die scheinbar teuerste Aktie. Allerdings hat sie, gemäß Ihren Schätzungen, ein überaus kräftiges Gewinnwachstum von 50 Prozent pro Jahr für die kommenden Jahre. Das wiederum bedeutet, dass sich der Kauf der Aktive C nach nur etwas mehr als sechs Jahren amortisiert hat – also früher als bei Aktie B und auch bei Aktie A. Der Blick auf das KGV hätte folgende Empfehlung gegeben: A ist attraktiver als B, und B ist attraktiver als C. Die Berücksichtigung der künftigen Gewinnentwicklung hätte C den Vorzug vor A gegeben, und A vor B.

Angesichts dieser Einsichten lassen sich drei Lehren ziehen.

Erstens: Die Vorteilhaftigkeit von Aktien anhand des KGVs auswählen zu wollen, ist nicht unproblematisch. Das KGV in seiner einfachen Form berücksichtigt nicht die künftige Gewinndynamik eines Unternehmens. Das wiederum kann den Investor dazu verleiten, die Attraktivität der gegenwärtig erfolgreichen Unternehmen zu überschätzen und die Attraktivität der künftig erfolgreichen Unternehmen zu unterschätzen – und die scheinbar günstigen Unternehmen erweisen sich im Nachhinein als relativ unattraktiv, die scheinbar teuren als relativ attraktiv.

Zweitens: Nicht die gegenwärtige, sondern die künftige Gewinnentwicklung der Unternehmen ist von zentraler Bedeutung für den Kurs einer Aktie. Sie findet sich nicht in Geschäftsberichten, sondern muss geschätzt werden. Bei einigen Unternehmen ist das schwieriger als bei anderen, bei einigen ist es kaum oder gar unmöglich. Weil die künftige Gewinnentwicklung von so zentraler Bedeutung für den Unternehmenswert ist, ist der Investor gut beraten, sich auf die Geschäftsmodelle konzentrieren, die er auch versteht. Das ermöglicht ihm, den Wert der Aktie mit hinreichender Genauigkeit zu bestimmen – denn den braucht er, und sinnvolle Investments tätigen zu können.

Das führt uns, drittens, zur Einsicht, dass ein Investment dann sinnvoll ist, wenn der Kurs, den man an der Börse bezahlt, deutlich unter dem Wert der Aktie liegt (beispielsweise um 20 bis 30 Prozent). Der Investor hat dann eine „Sicherheitsmarge“, die sein sein Risiko senkt, dauerhafte Kapitalverluste zu erleiden. Um den Wert der Aktie zu bestimmen, reicht ein Blick auf das KGV in der Regel nicht aus, sondern man braucht eine hinreichend verlässliche Einschätzung der künftigen Gewinne. Die Binsenweisheit verdient, hier betont zu werden: Der Weg zum Investmenterfolg besteht darin, die künftigen Gewinne richtig einzuschätzen.

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