Es ist 20.50 Uhr, die Sonne versinkt in der Ägäis. Gerade haben vier Freunde, Kollegen, Verwandte – man weiß es nicht genau – für Mehmet Göker den Tisch gedeckt, auf der Terrasse, mit Schalen voll deutscher Gummibärchen und türkischer Sonnenblumenkerne. Und eine Shisha für Göker vorbereitet. Der von der deutschen Staatsanwaltschaft per Haftbefehl gesuchte Ex-Star der deutschen Versicherungswirtschaft hat seinen Job nicht verlernt. Er kann alles verkaufen. Auch seinen neuen Wohnort. Die Worte knallen wie aus einem Überdruckbehälter aus ihm raus. „Über 300 Sonnentage im Jahr, von April bis November fallen die Temperaturen nicht unter 20 Grad, in der Spitze 36 Grad“, jede Zahl ein Vorschlaghammer für die Ohren. „Was soll ich bitte schön noch in Deutschland?“ Göker spricht noch immer wie jemand, der die Caps-Locked-Taste gedrückt hält und hinter jeden Satz drei Ausrufezeichen setzt.
Er entschuldigt sich für ein paar Minuten. Trotz der 300 Sonnentage im Jahr ist es nachts noch frisch. Nach einigen Minuten sind Gökers vier Vasallen übereingekommen, dass es zu kalt sei, um draußen zu sitzen. Sie bringen die Schalen mit Gummibärchen und die Wasserpfeife nach drinnen. Als Göker wieder erscheint, fragt er, was das soll. „Wieso sitzen wir drinnen?“ „Es ist zu kalt draußen, Mehmet“, sagt einer. Göker darauf: Wem es zu kalt ist, der soll sich was anziehen. Menschen und Dinge bewegen sich also wieder nach draußen. Dort bleiben sie sitzen für die nächsten Stunden, schweigend, rauchend, frierend.
Kuşadası ist tatsächlich ein wunderschöner Ort an der türkischen Ägäis-Küste, etwa eine Stunde südlich von Izmir. Das Klima ist mild, weshalb sich hier viele türkische wie deutsche Rentner niedergelassen haben. Es ist ein guter Ort zum Altwerden und um sich zu vergewissern, dass man nicht da sein will, wo man nicht sein kann.
Mehmet Göker: So wird man Millionär
Im Internet-Netzwerk Facebook verbreitet der Versicherungsvertreter gerne seine Lebensweisheiten. Seine Fans lieben das und kommentieren seine Bemerkungen fleißig.
„Merke Dir: Noch nie ist jemand Millionär geworden, dessen Intention es war, Millionär zu werden !“
„Millionär wird man, indem man etwas tut, was einem Spaß macht - aus Leidenschaft und dann mit 100 Prozent Hingabe dieser Leidenschaft mindestens 60 Stunden die Woche nachgeht.“
„Wenn dann noch ein Schuss Kreativität, Eigenmotivation, Disziplin, Ordnung und Fleiß Deine Attribute sind, dann ist es möglich, Millionär zu werden.“
„Aber glaube mir eines: Jemand, der etwas gerne macht, hat das Ziel glücklich zu sein und nicht Millionär zu werden. Das Geld kommt von ganz alleine. Jemand, der das Ziel verfolgt, Millionär zu werden, der wird weder glücklich noch Millionär.“ . . .
. . . „Er vergeudet einzig und allein seine Lebensenergie damit, ein Leben lang dem schnöden Mammon hinterher zu laufen.“
Der wollte doch immer reich & berühmt werden, wendet ein Facebook-Nutzer ein.
„Never. Bohlen wollte singen, Gitarre spielen. Das war immer seine Leidenschaft. Sein Vater war Millionär. Und er hätte in seiner Firma anfangen können. Statt dessen hat er bei einem Hamburger Musikstudio für 4.000 Mark brutto angefangen! Und sich dann Lied für Lied hoch gearbeitet!“
„Genau das ist der Grund, wieso ich diese Sympathie für Dieter Bohlen habe!“, kommentiert ein Anhänger den Göker-Kommentar. „Wieso? Weil er es durchgezogen hat, obwohl er nicht der beste Sänger war und oft verhasst wurde, jedoch ist er immer wieder aufgestanden, egal wie oft - er unten lag! Respekt vor dieser Leistung!“
"Exakt. Ich habe ihn schon immer bewundert und geliebt. In den 80ern in der Grundschule sangen wir auf dem Schulhof Cherry Cherry Lady"
Göker hier zu treffen ist allerdings nicht ganz einfach. Auf eine erste schriftliche Anfrage, ob man sich mal unterhalten könne, reagiert er nicht. Später dann doch („NA KLAR“). Dann ist wieder für einige Tage Funkstille. Bis Göker anruft und wie eine Haubitze auf Speed über die Berichterstattung über ihn schimpft. Schließlich stimmt er einem Treffen zu, verschiebt es aber zweimal. Am Ende kommt er 45 Minuten zu spät, bittet dabei auf so charmante wie mitreißende Art um Entschuldigung, dass man direkt vergisst: Gökers Ferrari ist weg.
"Verheerende Auswirkungen"
Über Gökers Aufstieg und Fall gibt es mehrere TV-Dokumentationen. 2015 erschien auch noch seine Autobiografie „Die Wahnsinnskarriere des Mehmet Göker“. Das Cover ziert heute seine Facebook-Page. Noch immer hat er zahlreiche Fans, für die er ein Selfmade-Millionär und Erfolgsguru ist. Andere halten ihn für einen Brüllaffen.
Der heute 39-Jährige war schlau und hatte Talent; nach seiner Ausbildung zum Versicherungskaufmann machte er sich selbstständig und baute innerhalb weniger Jahre Deutschlands größten Versicherungsvertrieb auf. Sein Erfolgsrezept hieß „ich“. So nannte er in zwingender Logik auch seine 2003 gegründete Firma „MEG“ – Mehmet Ercan Göker. Seinen Mitarbeitern hämmerte er ein: Ihr müsst werden wie ich. Für Außenstehende mag das vielleicht eine eher nicht so attraktive Vorstellung sein, denn in den zahlreichen Dokumentationen über Göker hört man den Mann sich ausschließlich in einer Stimmlage äußern: Er schreit. Entweder um den Erfolg aus seinen Mitarbeitern herauszuholen, oder um den Misserfolg aus ihnen herauszubrüllen.
Doch zu werden wie Göker bedeutete eben auch: Verdammt viel Geld zu scheffeln. Früher ließ Mehmet Göker bis zu 300 Leute nacheinander auf einer Bühne antanzen. Sie sollten ihren Namen nennen und den Grund, weshalb sie gerne für MEG arbeiten wollten. Die selbstbewusstesten unter ihnen bekamen den Job, und verdienten schnell fünfstellig im Monat.
2004 hatte die MEG 40 Mitarbeiter, 2006 waren es schon 150, auf dem Höhepunkt waren es über 1000. Die MEG verkauft private Krankenversicherungen (PKV). Für jeden Abschluss zahlen die großen Versicherer Provisionen an den Verkäufer – zu Spitzenzeiten bis zu 14 Monatsbeiträge. Von Gökers Erfolg beeindruckt, gibt es die Prämien auch bald als Vorschuss, in der Annahme, die Abschlüsse würden schon folgen. Allein im ersten Halbjahr 2009 waren das über elf Millionen Euro. Die gab Göker für den Firmenfuhrpark aus. Die besten Mitarbeiter bekamen einen Ferrari, die zweite Riege fuhr Porsche. Das war megaloman, aber noch nicht illegal. Der Abstieg begann, als die MEG die scheinselbstständigen Verkäufer fest anstellen musste. Plötzlich fehlte das Geld, das vorher in Autos und Firmenausflüge nach Las Vegas gesteckt worden war. Die Versicherungen wollten nun die Prämien zurück. Göker, dessen Vermögen eben noch auf 230 Millionen Euro geschätzt worden war, sah sich Millionenforderungen gegenüber. Es folgte die Insolvenz.