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So könnten Rentensysteme den Kollaps vermeiden

Martin Feldstein Quelle: Bloomberg, Montage
Martin S. Feldstein US-amerikanischer Ökonom, Professor für Wirtschaftswissenschaften und ehemaliger Oberster Wirtschaftsberater für US-Präsident Ronald Reagan Zur Kolumnen-Übersicht: Post aus Harvard

Der demografische Wandel setzt weltweit die Rentensysteme unter Druck. Angesichts der Finanzierungslücken drohen stark steigende Beiträge und sinkende Leistungen. Man könnte aber beides vermeiden. 

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Diese Frage betrifft uns alle: Was kommt nach dem Arbeitsleben? Jede Gesellschaft steht vor der schwierigen Aufgabe, ihre Senioren zu unterstützen. In früheren Zeiten lebten Ruheständler bei ihren erwachsenen Kindern, kümmerten sich um deren Nachwuchs und halfen im Haus. Doch dieses Lebensmodell ist weitgehend passé: Heute ziehen Ruheständler und ihre erwachsenen Kinder gleichermaßen ein Leben in Unabhängigkeit vor.

In einer rationalen Wirtschaftswelt würden Menschen während ihrer Erwerbsjahre genug ansparen, um eine Pension zu erwerben, die ihnen nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben einen angenehmen Lebensstandard finanziert. Doch die meisten Menschen tun das nicht – sei es aus Kurzsichtigkeit oder aufgrund der durch staatliche Sozialversicherungsprogramme geschaffenen Anreize. Die europäischen Regierungen unterhalten daher seit Otto von Bismarck umlagefinanzierte Rentensysteme, die US-Regierungen tun dies, seit Präsident Franklin Roosevelt die Amtsgeschäfte führte. In jüngerer Zeit hat auch Japan ein derartiges System eingeführt.

Ein System, das bei niedrigeren Rentenbeiträgen der Erwerbstätigen einen behaglichen Lebensstandard der Rentner gewährleistet, funktioniert freilich nur, wenn die Zahl der Rentner im Vergleich zur Zahl der Beitragszahler gering ist. Dies traf auf die Programme früherer Jahre zu. Doch es wurde schwieriger, das Leistungsniveau aufrechtzuerhalten, als mehr Arbeitnehmer das Rentenalter erreichten und anschließend als Rentner länger lebten, was das Verhältnis der Rentner zur beitragszahlenden Bevölkerung erhöhte.

Die Lebenserwartung in den USA etwa hat sich seit 1940, als das US-Sozialversicherungsprogramm aufgelegt wurde, von 63 Jahren auf 78 Jahre erhöht (2017). Im Jahr 1960 standen einem Rentner fünf Arbeitnehmer gegenüber; heute sind es drei. Die Versicherungsmathematiker der Social Security Administration prognostizieren, dass die Zahl der Arbeitnehmer pro Rentner bis 2030 auf zwei sinken wird. Um die gegenwärtige Leistungsstruktur aufrechtzuerhalten, müsste der Beitragssatz von heute 12 Prozent auf 18 Prozent im Jahr 2030 steigen. Andere wichtige Länder stehen vor einem ähnlichen Problem.

Wann Europäer in den Ruhestand dürfen
Stand heute arbeiten die Portugiesen am längsten. Quelle: REUTERS
Auch für die Iren zieht sich die Zeit bis zur Rente hin Quelle: AP/dpa
Nur Portugiesen und Iren arbeiten länger als die Deutschen. Quelle: dpa
Polnische Männer arbeiten mit 65,25 Jahren nur drei Monate weniger als aktuelle Neurentner in Deutschland Quelle: REUTERS
Unsere holländischen Nachbarn haben es da auch nicht viel besser Quelle: REUTERS
Gleich vier Länder haben nach OECD-Daten den 65. Geburtstag als Renteneintrittsalter festgelegt Quelle: dpa
Auch in Spanien dürfen Frauen wie Männer erst mit 65 in den Ruhestand. Quelle: AP

Sollte es politisch nicht möglich sein, den Beitragssatz anzuheben, gibt es nur zwei Möglichkeiten, einen kompletten Systemzusammenbruch zu vermeiden. Eine Option besteht darin, den künftigen Anstieg der Rentenleistungen zu verlangsamen, sodass diese ohne wesentliche Beitragserhöhung finanzierbar sind. Die andere besteht darin, von einem reinen Umlagesystem auf ein Mischsystem umzustellen, das Festleistungen durch Renditen aus Finanzanlagen ergänzt.

Ein US-Beispiel zeigt, wie eine Verlangsamung des Anstiegs der Rentenleistungen auf politisch akzeptable Weise funktionieren könnte. 1983 wurde das Alter, in dem man Anspruch auf volle Rentenleistungen aus der Sozialversicherung erhielt, von 65 auf 67 erhöht. Diese faktische Leistungskürzung war politisch möglich, weil die Änderung nur mit erheblicher Verzögerung wirksam wurde und allmählich über mehrere Jahrzehnte hinweg eingeführt wurde. Zudem besteht bereits ab einem Alter von 62 ein Anspruch auf Rentenleistungen, die dann allerdings versicherungsmathematische Anpassungen beinhalten.

Seit Verabschiedung dieser Änderung hat sich die Lebenserwartung für Personen im Alter von Mitte 60 um etwa drei Jahre erhöht. Damit setzt sich ein Muster fort, bei dem sich die Lebenserwartung von jemandem dieses Alters um ein Jahr pro Jahrzehnt fortsetzt. Einige Ökonomen, darunter auch ich, treten nun dafür ein, das Alter, in dem die Rente ohne Abschläge in voller Höhe ausgezahlt wird, um weitere drei Jahre auf 70 anzuheben und anschließend an die (unverändert bleibende) Lebenserwartung der Empfänger zu knüpfen.

Ziehen wir nun die zweite Option in Betracht: die Kombination eines Umlagesystems mit Finanzanlagen. Die von privaten Unternehmen betriebenen Rentensysteme erreichen ihre Leistungen bei geringeren Kosten, indem sie in Aktien- und Anleiheportfolios investieren. Bei einer typischen US-Privatrente sind 60 Prozent des Vermögens in Aktien und die verbleibenden 40 Prozent in Anleihen hoher Qualität angelegt, was langfristig eine reale (inflationsbereinigte) Kapitalverzinsung von etwa 5,5 Prozent gewährleistet. Im Gegensatz dazu erbringen die für ein umlagefinanziertes System erhobenen Beiträge (ohne Anlagen in Finanzwerte) aufgrund des Anstiegs der Reallöhne und der Zahl der Beitragszahler eine Rendite von etwa zwei  Prozent.

Es wäre möglich, bestehende umlagefinanzierte Systeme allmählich durch ein ausschließlich anlagebasiertes System zu ersetzen, das dasselbe voraussichtliche Leistungsniveau bei viel niedrigerem Beitragssatz erbringt. Leider wären die durch diesen Beitragssatz erzielten Leistungen einem beträchtlichen Risiko ausgesetzt, dass die Leistungen deutlich unter dem erwarteten Niveau liegen.

Von mir selbst und anderen durchgeführte Untersuchungen zeigen, dass ein Mischsystem, das ein bestehendes Umlagesystem um eine anlagebasierte Komponente ergänzt, ein höheres voraussichtliches Leistungsniveau erreichen kann ­– bei einem nur geringen Risiko von Leistungsverschlechterungen. 

Die aktuelle Struktur der Rentensysteme in den meisten entwickelten Ländern lässt sich nicht aufrechterhalten, ohne das Leistungsniveau deutlich abzusenken oder deutlich höhere Beiträge einzuführen. Ein Mischsystem, das die Stabilität umlagegestützter Leistungen mit den höheren Renditen marktgestützter Kapitalanlagen verbindet, würde es diesen Ländern ermöglichen, auf beide Maßnahmen zu verzichten.

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