Rainer Brämer „Die Ideen kommen beim Wandern wie von allein“

Wandern in Deutschland: Wie Landschaften Inspiration stiften Quelle: Getty Images

Der Natursoziologe Rainer Brämer über Wandercoaching, welche Landschaften wir als stressentlastend empfinden – und die Konkurrenz durch Videospiele.

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Herr Brämer, wenn man Tourismusprospekten traut, könnte man meinen, die Deutschen seien allesamt begeisterte Wanderer. Was steckt hinter dem „Wanderboom“?
Die einschlägigen Statistiken, vor allem die Zahlen von ARD und ZDF, aber auch von Allensbach, sagen das Gegenteil: In den vergangenen Jahren ging es stetig leicht bergab mit der Wanderlust der Deutschen, im letzten Jahr um 2,3 Prozent. Auf der anderen Seite haben wir diesen Medienhype: Wandern gilt als schick. Ganz anders als noch vor 30 Jahren: Da war Wandern völlig out und wurde von den Medien, wo es nur ging, ins Lachhafte gezogen: Als sei der typische deutsche Wanderer ein Pensionär, der mit rotweiß kariertem Hemd und Seppelhut unterwegs ist. Unsere Untersuchungen, vor allem die „Profilstudien Wandern“, die 1998 erstmals veröffentlicht wurden, zeigten indes, dass das Wanderpublikum mit diesem Medien-Klischee nichts zu tun hatte: Das Durchschnittsalter lag bei 46 bis 48 Jahren, ein überproportionaler Anteil bestand aus Akademikern, nur ein bis zwei Prozent waren in Wandervereinen organisiert. Als ich dann nachforschte, was dieses Publikum für das Wandern ausgab, kam ich auf eine erstaunliche Zahl: zehn bis zwölf Milliarden Euro pro Jahr.

Da müssen einige Leute hellhörig geworden sein.
Allerdings, zum Beispiel im Sauerland, wo sich die Wanderinfrastruktur in einem fürchterlichen Zustand befand. Wir haben dann gemeinsam mit den Touristikern vor Ort in Anlehnung an den Rennsteig im Thüringer Wald, aber nach ganz anderen Kriterien, den Rothaarsteig entwickelt. Das wichtigste war: kein Asphalt. Und: nicht durch die Ortschaften gehen. Die Gastronomie stand Kopf. Aber ein Jahr nach der Eröffnung 2001 hieß es: Ein Sechser im Lotto. Das Projekt war ein Riesenerfolg und fand Nachfolger wie den Rheinsteig. Das war die Wende. Aus dieser Zeit stammt das Schlagwort vom Wanderboom, eine Art Gegen-Klischee – bis heute. In Wahrheit nimmt die Bewegungsfreude der Deutschen insgesamt nicht zu.

Der deutsche „Wanderboom“ ist mehr oder weniger ein Elitenphänomen?
Jedenfalls nimmt die Akademisierung des Wanderns zu.

Rainer Brämer Quelle: PR

Die Kopfarbeiter suchen kompensatorisch Entlastung in der Natur?
So scheint es. Wenn wir im Wald unterwegs sind, werden vor allem unsere Instinkte, unsere Nahsinne angesprochen. Das tut uns gut, denn die Evolution hat uns auf Nähe programmiert: Als Wanderer kommen wir in hautnahen Kontakt mit Natur und Landschaft. Ganz im Gegensatz zu unserer Arbeitswelt, wo die Fernsinne einseitig dominieren. Die amerikanischen Landschaftspsychologen haben das früh erkannt: Wir haben durchaus ein Bauchempfinden für Landschaften, nehmen sie unterbewusst war. Schön finden wir in der Regel Szenerien, die stressentlastend sind. Überschaubare Räume, die das Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit vermitteln. Zum Beispiel ein Waldrand mit Aussicht auf einen Wiesengrund, das hat etwas sehr Beruhigendes – und wird deshalb von jedermann als attraktiv empfunden.

Mit dem Wanderboom ist auch das Wandercoaching, das Beratungsgespräch in der Natur, beliebter geworden.
Ja, ich habe vor etwa zehn Jahren zum ersten Mal mit solchen Coachs zusammengearbeitet, um herauszufinden, wie sie die Landschaften auswählen, die sie für ihr Coaching brauchen. Leider bin ich am Anfang auf fast völlige Verständnislosigkeit gestoßen. Die Landschaft in ihrer entlastenden Funktion als Bündnispartner zu gewinnen - daran hatten sie noch gar nicht gedacht. Es war ihnen mehr oder weniger egal, wo sie entlang gingen. Erst langsam konnte ich mich verständlich machen. Noch schwieriger war das Gespräch mit Theologen.

Worum ging es?
Um die Gestaltung der neuen Pilgerwege. Ich habe klar machen wollen, dass man dazu Landschaften braucht, die anregend sind, aber auch die Entlastungsfunktion stärken. Das war den Theologen nicht beizubringen. Im Vordergrund stand für sie der Weg von Kirche zu Kirche, von Unterkunft zu Unterkunft. Die landschaftlichen Potentiale für die spirituelle Erweckung, die, nebenbei bemerkt, nicht immer eine religiöse sein muss, wurden so gut wie gar nicht genutzt. Inzwischen hat sich das gebessert.

Landschaften, die Inspiration stiften

Zum Wandercoaching: Wie müssen Landschaften aussehen, die Inspiration stiften?
Durch reine Fichtenforste zu gehen – das kann es nicht sein. Die Wege sollten schon eine gewisse Abwechslung bieten, so dass man immer mal wieder herausgerissen wird aus seinem Trab. Man kann da regelrechte Offenbarungen erleben. Ich war ja lange Zeit Wanderführer. Manchmal konnte man vorhersagen, wie die Leute auf bestimmte Situationen reagieren. Wenn Sie lang genug durch den Wald gelaufen sind und sich dann unerwartet eine Aussicht auftut – dann bleibt Ihnen jede Wandergruppe stehen. Ich habe einmal eine Wanderung geführt, die in die Dunkelheit ging, über einen Gebirgskamm: Plötzlich öffnete sich der Wald und gab nicht nur den Blick frei auf die Höhenzüge des Sauerlands in allen Nuancen von Blau und Schwarz, sondern auch auf ein angeleuchtetes Schloss. Probeweise habe ich dazu noch eine sehr beruhigende, romantisch klingende Barockmusik laufen lassen – da haben sich die Leute eine Viertelstunde lang nicht mehr bewegt, das hat sie doppelt gepackt, sie waren regelrecht gebannt. Die Wirkung von Landschaften ist zu 90 Prozent erstmal eine emotionale.

Bei langen Wanderungen können sich regelrechte Trancezustände einstellen, es wird auch immer wieder gesagt, das Wandern fördere die Kreativität.
Ja, die besten Ideen kommen in der ersten halben Stunde, da fällt einem alles Mögliche ein. Das haben auch meine akademischen Kollegen immer wieder bestätigt: Die Gedanken kommen wie von allein. Erst dann, nach stundenlangem gleichmäßigem Gehen, stellt sich die Trancephase ein, die wunderbar entspannend sein kann. Der Stress fällt von einem ab, man scheint den Körper nicht mehr zu spüren, fühlt sich gelöst, fast abgehoben, wird gewissermaßen eins mit der Landschaft. Der Geist ist dann allerdings eher träge, es wird nicht mehr viel nachgedacht.

Die Sinne sind aber noch ziemlich wach.
Durchaus. Wir öffnen uns beim Wandern ja mit all unseren Sinnen, nicht nur mit den Augen und Ohren. Unser Körper hat ein internes System, das unsere Bewegungen automatisch steuert. Wir achten nicht besonders auf den Weg und fallen trotzdem nicht über den Stein vor uns. Da findet eine wunderbare Harmonisierung der inneren mit der äußeren Natur statt.

Was weiß man sonst noch über die physiologischen Vorgänge beim Wandern?
Der Stoffwechsel wird gestärkt, der Serotonin-Spiegel angehoben, Endorphine kommen nach ausdauerndem Wandern ins Spiel. Ganz wichtig: Dopamine werden freigesetzt, wenn die Entdeckerlust des Wanderers angestachelt wird. Fast könnte man sagen: Dopamin ist das Geheimnis des Mystery-Effekts. Damit meinen die amerikanischen Landschaftspsychologen die Verlockung durch das noch nicht Gesehene. Was erwartet mich hinter der nächsten Biegung? Was ist da los? Davon leben Wanderwege ganz entscheidend: Die Erwartung, immer wieder etwas Neues zu sehen, erzeugt beim Wanderer wiederholt einen Dopamin-Schub. Das haben wir bei der Gestaltung des Rothaarsteigs unterschätzt. Der Spannungs-Effekt, den ein schmaler, gewundener Pfad bietet, ist viel wichtiger als der schönste Kammweg mit ein paar Aussichten.

Ein bisschen Stress darf also doch dabei sein?
Ja, wir schätzen beides. Einerseits die Sicherheit, die ein Weg bietet: Ich will wissen, wo ich bin und wo es lang geht. Deshalb ist eine klare, eindeutige Wegweisung so wichtig. Andererseits der Mystery-Effekt, der unsere Neugier auf das nächste Stück Weg weckt. Die Kombination von beidem macht es.

Sie stellen in Ihren Untersuchungen fest, dass die Wanderquoten der 14- bis 29-Jährigen stärker abnehmen als die der älteren Jahrgänge. Woran liegt das? Ist Wandern für die Jungen nicht spannend genug?
Die Mehrheit fühlt sich offenbar bei den neuen Medien besser aufgehoben. Das zeigen auch Jugendstudien. Womöglich hängt das damit zusammen, dass die digitalen Kunstwelten mit viel dichteren Reizfolgen arbeiten als die spannendste Wanderweg-Dramaturgie es je könnte. Ich bin immer wieder erstaunt, mit wieviel tiefenpsychologischer Raffinesse die Zuschauer der Game-Videos bei der Stange gehalten werden. Da sind großartige Künstler am Werk. Und was den Natursoziologen besonders interessiert: In welchem Maße die Natur als allgegenwärtige Kulisse in diese Medien eindringt, mit den einschlägigen Zutaten, die wir aus der Landschaftspsychologie kennen: Liebliche Wiesentäler, gestaffelte Höhenzüge, sich hoch auftürmende, bedrohliche Felslandschaften, mit einer Burg in der Ferne, dem Symbol der Sicherheit. Alles wie in der romantischen Malerei, nur mit viel schneller wechselnden Szenerien – und einer draufgesetzten Handlung.

Und Sie glauben, das sei eine ernsthafte Konkurrenz für das analoge Wandererlebnis?
Ja, es scheint mir fast so. Der optische Effekt ist faszinierend. Auch für einen alten Wanderer wie mich.

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