Fakt ist: Für die Mehrheit der Chinesen geht es seit Jahren aufwärts. Rund 400 Millionen Menschen haben sich in den vergangenen 30 Jahren aus absoluter Armut befreit. Doch in jüngster Zeit mehren sich die Anzeichen, dass die sozialen Konflikte eskalieren. Zum ersten Mal seit 2000 veröffentlichte die Regierung im Januar wieder den sogenannten Gini-Koeffezienten, der die Wohlstandsverteilung innerhalb eines Landes misst. Null bedeutet völlige Gleichheit, 1 größtmögliche Ungleichheit.
Werte von über 0,4 lassen auf starke soziale Unzufriedenheit schließen. Der von der Regierung veröffentlichte Wert beträgt 0,47, die Universität in Chengdu kam gar auf 0,6. Kein Wunder angesichts von 2,7 Millionen Dollar-Millionären und 251 Milliardären im Land.
Die Regierung in Peking kennt das Problem
China steht nicht unmittelbar vor der Implosion, doch die Probleme von heute werden sich in den nächsten Jahren potenzieren. „Solange Wanderarbeiter in der Stadt mehr verdienen als auf dem Land, sind sie zufrieden“, sagt Analyst Miller. „Das aber wird sich ändern, wenn die Leute das Gefühl bekommen, die Regeln des Spiels seien langfristig gegen sie gerichtet.“
Der Regierung in Peking ist das Problem bekannt. „Auf dem Weg zur Wohlstandsgesellschaft sollten wir den nationalen Reichtum besser verteilen und mittleren und unteren Einkommensschichten ein größeres Stück vom Kuchen geben“, kommentierte Ma Jiantang, Vorsitzender des Nationalen Statistikbüros, die Veröffentlichung des Gini-Koeffezienten. Die Reform des Hukou-Systems wird daher im zwölften Fünf-Jahres-Plan explizit formuliert. Und tatsächlich gibt es hier und dort Fortschritte. In Shanghai existieren seit 2010 Schulen für Kinder von Wanderarbeitern. Sie bieten kostenlosen Unterricht bis zur neunten Klasse, obwohl ihr Budget nur halb so groß ist wie das der staatlichen Schulen. Experimente, das Meldesystem zu reformieren, fanden in Chongqing und Chengdu in Westchina statt.
Zögern vor einer Reform
Die Regierung in Peking zögert jedoch, die Reform des Meldesystems anzugehen. Die Machthaber halten das Hukou-System für einen Stabilitätsgaranten. Als in der Wirtschaftskrise Millionen Menschen in den Städten ihren Job verloren, kam es nicht zu Aufständen. Stattdessen fuhren die Wanderarbeiter zurück in ihre Dörfer.
Liu Ling aus Anhui interessiert sich nicht für Politik. Sie freut sich allein darauf, ihre Tochter wiederzusehen. „Meiner Tochter geht es viel besser als mir früher“, sagt sie. Liu ist Analphabetin. Damals, erklärt sie, habe man in ihrem Dorf nur die Jungen auf die Schule geschickt. Das sei jetzt anders.