Erdoğanomics und die Folgen Wie die Türken mit 11,9 Prozent Inflation umgehen

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Korruptionsskandal belastet internationale Beziehungen

Für den jüngsten Kursverfall der Lira aber dürfte es noch einen anderen Grund geben. Der sitzt in jenseits des Atlantiks in den USA. Letzte Woche gab der iranisch-türkische Geschäftsmann Reza Zarrab bekannt, er wolle mit den Ermittlern kooperieren. Für Erdoğan könnte das zu einem ernsthaften Problem werden. Zarrab wird in den USA beschuldigt, die Wirtschaftssanktionen gegen den Iran unterlaufen zu haben, indem er iranisches Öl und Gas gegen türkisches Gold tauschte.

Aber es kommt noch schlimmer: Mehrere Minister und Familienmitglieder Erdoğans sollen in den Handel verwickelt gewesen sein. Der Korruptionsskandal wurde 2013 aufgedeckt, der heute 34-jährige Zarrab kam kurz in Untersuchungshaft, wurde dann aber freigelassen und reiste in die USA aus. Die Vorfälle werden von Ankara heute als gülenistische Verschwörung bezeichnet.

Seitdem klar geworden ist, dass Zarrab aussagen wird, spitzen sich die Spannungen zwischen beiden Ländern zu. Seit September verweigern die NATO-Partnern den jeweiligen Staatsbürgern ein Visa. In Folge dessen stürzte die Lira ab. Auf den Märkten werden diese Entwicklungen genau beobachtet. Am kommenden Montag soll das Verfahren gegen Zarrab eröffnet werden - der Fall hat das Potenzial, den türkischen Politikbetrieb und damit auch die Wirtschaft zu erschüttern.

Deswegen von einer Währungskrise zu sprechen, ist verführt. Aber freilich belastet die schwache Lira den Staatshaushalt und türkische Unternehmen. „Die jüngste Kursentwicklung spiegelt nicht den Zustand der türkischen Wirtschaft wider“, sagt Jan Noether von der deutschen Handelskammer in Istanbul. „Der Verfall hat eher politische Ursachen. „Natürlich aber belastet eine schwache Lira türkische Unternehmen, die Fremdwährungskredite haben, oder auf Importe angewiesen sind.“

An Erdoğans Beliebtheit bei seinen Anhängern ändert all dies wenig. Im vergangenen Jahr erhöhte die Regierung auch den Mindestlohn um rund zehn Prozent auf 1777 türkische Lira. Durchschnittlich lagen die nominalen Lohnsteigerungen bei acht Prozent 2017. Für Arbeitnehmer ergab sich also eine reale Teuerung von vier Prozent.

Eigentlich müssten sich die Türken längst an die hohe Inflation gewöhnt haben, zum Beispiel weil Fleischwaren ständig teurer werden. Aber über steigende Preise zu klagen, hat Tradition in der Türkei. Zwischen 1970 und 2002 lag die mittlere Teuerungsrate bei 40 Prozent. Erst unter der AKP-Regierung und einer Währungsreform blieben die Preise relativ stabil - das rechnen viele Türken der Partei und Erdoğan noch hoch an. Und auch die Exportwirtschaft freut sich: Eine schwächere Lira ist gut für das Geschäft.

Hinter dem türkisch-amerikanischen Visa-Streit steht eine Entfremdung der Nato-Partner, die nicht nur wirtschaftlich gefährlich werden könnte.
von Philipp Mattheis


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